Gedichte wie einen Papierflieger bauen und über eine weiße Fläche jagen, Luft so lange beschreiben, bis sie Knetmasse wird, Sätze so lange abschleifen, bis nur noch die zwei wichtigsten Wörter übrig bleiben.

Jörg Zemmler nennt seine zusammengearbeiteten, luftgenagelten und bodengenieteten Textstücke vorsichtigerweise Gedichte in der Hoffnung, dass sie dann im Gedichtband bleiben. Denn seine Texte sind in Wirklichkeit so ungezähmt, dass sie davon fliegen, wenn man eine Seite aufschlägt.

Wie muss man kleine Begebenheiten, entlegene Landstriche, versteckte Stimmungen oder verlorengegangene Lebensentwürfe aufrüsten, dass man sie als Andeutung gerade noch erzählen kann?

Wolfgang Hermann treibt seine 35 Erzählungen an den Rand der Selbstauflösung, es sind wahrlich letzte Gesänge, wie es in der titelgebenden Geschichte heißt. Diese Kleinodien wirken auf den ersten Blick wie Zugaben zu einem anstrengenden Alltagswerk, diese Piecen tauchen in Verschnaufpausen auf, als Balkonstimmung, wenn in das abendliche Gelände geschaut wird, oder als Notiz eines Stadtplaners, wenn er die ersten Maßeinheiten in die Skizze einträgt.

Gedichtbände haben immer auch ein geheimes Drehbuch unter der Gedicht-Haut mitlaufen, damit sich die poetischen Sporen auch im Wind der Gegenwart verbreiten können.

Cornelia Travnicek verzichtet in ihrem Gedichtband auf ein deklariertes Inhaltsverzeichnis, ihre Gedichte setzen ein wie eine Erzählung und enden in einem umfangreichen Schlussstein, der alles zusammenhält. In einem Bild einer Landschaft werden dem lyrischen Ich wie auf einem Theater-Prospekt einzelne Sequenzen vorgeschoben, die dieses abnickt, bis ein blankes Steinfeld übrig bleibt:

Elementare Fragen lassen sich wenn überhaupt meist nur durch ein Gedicht klären, weil dieses ebenso unvermittelt daher kommen kann wie eine Frage.

In Ludwig Lahers Inschrift „was hält mich“ lässt sich eine Suche nach den Parametern für Orientierung genauso herauslesen wie der beinahe schon finale Seufzer, „was hält mich (noch)“.

Was sich wie eine cineastische Dokumentation aus einem romantischen Gewässer anhört, ist tatsächlich nur eine von Hunderten poetischen Begegnungen, die im schrägen Sekundentakt auf den Leser einprasseln. Wolfgang Bleier nennt seine Ode an den Alltagsablauf der etwas anderen Art sehr sinnlich „Fischfang bei aufgehender Sonne“.

Was im Titel noch nach einer den Sinnen zuordenbaren Situation entspricht, ufert von der ersten bis zur letzten Seite aus in ein Empfindungswerk der dynamischen Art. Beinahe wie im absurden Theater geht eine schizophrene Szene in die nächste über, steht im einen Satz das Gegenteil des anderen, reden Figuren hauptsächlich in sich hinein, und was als öffentliche Botschaft in den Raum gestellt wird, entpuppt sich immer wieder als hohle Plakatwand.

Wenn die richtigen Typen zusammenkommen, entsteht durchaus freche Lyrik. Wenn zwergenhafte Schatzhüter (Gnomen) und Doppeltreffer im Lotto (Amben) aufeinandertreffen, kann eigentlich nur die Lyrik des Oswald Egger daraus entstehen.

Tatsächlich braucht das Lyrikwerk „Amben & Gnome“ von Oswald Egger einen beruhigenden Vorspann, ehe sich das Auge dann teilen muss, weil auf den Seiten oben immer etwas anderes gespielt wird als im Fließtext unten.

Im Poetry Slam ist zwar jeden Tag die Hölle los und man weiß nie, wie der Abend ausgeht, die Heldinnen und Helden freilich reisen meist mit einer persönlichen Lyrik-Bibel an, die sie sich selbst geschrieben haben.

Felix Römer ist zwischen den Auftritten mit handfester Lyrik unterwegs, die papierene Brücke zum Publikum ist als lyrische Kampfschrift im Umlauf. Nach längeren Episoden ist jeweils ein QR-Code abgedruckt, durch den man rasch zu den mündlichen Realisationen des eben gelesenen Textes gelangt.

Das gute lyrische Ich vermag sich zwischendurch zu materialisieren und kann dabei allerhand Gestalt annehmen. Eine besonders innige und dennoch massige Form stellt in diesem Spiel der Kiesel dar, der als Unikat und Massengut hervortreten kann.

Günter Kaip gibt dem Kiesel Auslauf in neunundneunzig Gedichten. Darin tritt der Kiesel aktiv aus den Zeilen hervor und wird zu einem Künstler, oder aber er wird passiv herumgereicht und am Ende eines Tages spürt er bloß noch ein warme Hand, die sich zurückgezogen hat.

Ähnlich der Programmmusik gibt es auch eine Programmlyrik, worin ein bestimmtes Gedankensystem lyrisch verknotet werden soll.

Bosko Tomasevic legt als Philosoph und Lyriker ausdrücklich Wert auf diese Verknüpfung. Im Nachwort zu dem Lyrikband „Risse“ distanziert er sich von früheren Werken und zählt dann seine diversen Schreibjahrzehnte auf, in denen er sich als lyrischer Kompositeur programmatisch vor allem Heidegger, Beckett oder Celan genähert hat. Die literarische Vorgangsweise bezeichnet der Autor als „Dichtung der Erfahrung“, womit das Aufzeigen gewisser Begleitumstände der Existenz gemeint sei. (130)

Gerade das scheinbar Selbstverständliche ist oft aus einer Auseinandersetzung mit würdigen und unwürdigen Argumenten hervorgegangen.

So nimmt man heutzutage die Mehrsprachigkeit Südtirols als wesentliches Merkmal des Landes, aber noch vor nicht allzu langer Zeit hat man den konsequent auf Italienisch/Deutsch schreibenden Lyriker Gerhard Kofler aufgefordert, sich gefälligst für eine Sprache zu entscheiden. Dabei ist es das Vermächtnis Gerhard Koflers, dass eine mehrfarbige Sprachfahne unverwechselbar durch die Literatur weht.