Jean-Louis Poitevin, Die Gerüche der Küche

Buch-CoverSo umfangreich, abrupt und raffiniert verzirkelt wie Robert Musils Hauptwerk „Der Mann ohne Eigenschaften“ ist auch der Trakt jener Bücher, die mittlerweile über Robert Musil erschienen sind und stündlich neu erscheinen. Die Frage bei einem Werk über Musil lautet also. Was ist dieses Mal der besondere Aspekt, der die Ausführung einer weiteren Musilanalyse notwendig gemacht hat?

Für Jean-Louis Poitevin ist letztlich die Küche der ideale Ort, um sich Musil zu nähern. In einem ganz winzigen Schlusskapitel wird auf die relativ lapidare Erkenntnis zurückgegriffen, dass es in der Küche anders riecht als im Speisesaal, dass die Speisen am Schneidebrett anders aussehen als am Teller, ja dass das Leben in einem Text anders aussieht als in freier Wildbahn. Diese kleine Erkenntnis hat dem Musil-Buch schließlich den Titel gegeben, der Buchtitel ist somit eine wohlriechende Irritation auf dem großen Ausgelege des Musilschen Frischmarktes.

Salopp verkürzt könnte man Robert Musil einen Vorläufer der Hyperlinks und des Hypertextes sehen. Sein Mann ohne Eigenschaften lässt sich auf jeder Seite neu starten und von einer Idee lässt sich vortrefflich quer zu einer anderen Idee surfen.

Jean-Louis Poitevin greift diese Methode auf und unterlegt die einzelnen Partikel mit Meditationen. Meinung und Metapher, Das Warten, Das Ende einer Illusion, Die Ausdünnung des Schreibens und die Werke des Randes. Unter diesen verrückt-verzückenden Überschriften sind dann ein paar meditative Gedankenknödel ausgelegt.

Meist ist eine Stelle aus dem Gesamtwerk Musils Anlass für diese assoziativen Schlieren, in denen Bildungsgut, Zitate, ähnliches Strandgut befreundeter Philosophen und allgemeine Erkenntnisse beim Denken zusammentreffen. Die einzelnen Sequenzen haben letztlich keinen Anfang und kein Ende, kommen selten zu einem logischen Schluss und gleichen zwischendurch Wurstanschnitten in der Auslage, die man jeden Morgen neu nach schneidet, ohne dass am Vortag jemand von der Wurst gegessen hätte.

Poitevins Essay ist 1996 im französischen Original publiziert worden, die deutsche Übersetzung zehn Jahre später. Dazwischen hat sich das Musilbild vollkommen verändert. So weisen die Gerüche der Küche auf Deutsch eine schwerfällige Behäbigkeit auf, die dann entsteht, wenn ein Gedankengang beim Panieren allzu oft umgedreht worden ist, um in der Sprache der Küche zu bleiben.

Wenn man einmal die übergroße Ehrfurcht, die der anbetende Essayist seinem Stoff zuteil werden lässt, beiseite lässt, lernt aus diesem Buch, wie Musil in der französischen Kultur mit Hingabe aufgenommen wird. Man ist beeindruckt, wie ungeniert man alles denken kann, wenn man nur metaphysisch genug loslegt, und man wird den Eindruck nicht los, dass große Gedanken oft dadurch umständlich und groß wirken, weil sie sehr umständlich übersetzt sind.

Jean-Louis Poitevin, Die Gerüche der Küche. Ein Essay über Robert Musil. A. d. Franz. von Jule Winter. [Orig.: La cuisson de l’homme, 1996].
Innsbruck. Studienverlag 2006. 190 Seiten. EUR 22,90. ISBN 978-3-7065-1714-0.

 

Weiterführender Link:
Studienverlag: Jean-Louis Poitevin, Die Gerüche der Küche

 

Helmuth Schönauer, 01-02-2007

Bibliographie

AutorIn

Jean-Louis Poitevin

Buchtitel

Die Gerüche der Küche

Originaltitel

La cuisson de l’homme

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2006

Verlag

Studienverlag

Übersetzung

Jule Winter

Seitenzahl

190

Preis in EUR

22,90

ISBN

978-3-7065-1714-0

Kurzbiographie AutorIn

Jean-Louis Poitevin, geb. 1955, ist Literaturwissenschaftler und Essayist. Lange Zeit als Leiter des Französischen Kulturinstitutes in Innsbruck tätig, lebt er heute in Paris. Forschungsarbeiten vor allem zu Robert Musil und Julien Gracq.