Gennadij Gor, Blockade

Buch-CoverManchmal zischt ein Buch in die Seele des Lesers wie ein zweischneidiges Messer. Üblicherweise liest man ein Buch, das in eine unbekannte Zeitzone führt, mit dem Nachwort zuerst, ehe es ab in den Text geht, aber im Falle der Blockade ist es egal, wo man beginnt, mit dem aufrüttelnden Originaltext von Gennadij Gor oder dem noch aufrüttelnderen Nachwort von Peter Urban.

Es geht schlicht darum, dass zwischen 1942 und 1944 in Leningrad ein Genozid stattgefunden hat, die Stadt wurde von der deutschen Wehrmacht belagert und man rechnete damit, dass sie von selbst stirbt.

In dieser Stadt lebte völlig atomisiert und isoliert die Intelligenz Russlands, im Sowjetregime nicht gerne gesehen. Während um diese Zeit Daniil Charms, der Autor der Skurrilität, in Leningrad in einem Gefängnis einfach in Luft aufgelöst wurde (er verhungerte), schrieb der Autor Gennadij Gor Gedichte gegen die Blockade im ausgehungerten Hirn. Das Wort Dystrophie wird im Deutschen bis heute noch nicht gerne gesehen, denn es beschreibt jenen Zustand, worin der Körper sich selbst auffrisst und das eigene Hirn als Beobachter dieses Vorganges installiert.

Die Texte sind auf den ersten Blick Gedichte, sie wuchern dann während des Lesens zu wirklichen Gedichten aus und dennoch entsteht die Poesie eher aus Wahnsinn, Irrlicht und Verknüpfung von disparaten Wahrnehmungen, so dass man es zwischendurch nicht mehr für ein Gedicht hält, was einem da an die Gurgel springt.

Es kostete vom Menschenfleisch / Adolf mit dem Schafsgesicht. / Die Frau stand nebenbei gebückt / Im kalten Wasser und sah mit an / Wie sie verzehrten ihren Mann. //1942 (105)

So verrückt können Liebesgedichte scheinbar logisch ausufern, wenn sie in die politische Endzeit gespannt sind. Als Leser wirft man alle diese Gedichtkategorien beiseite, wenn man sieht, wie diese Blockade-Gedichte jegliche lyrische Logik über Bord werfen. Die letzten Haustiere kuscheln noch, während sie gehäutet werden, die letzten Freunde ducken sich, ehe sie zum Sterben den Kuckuck suchen, welcher sie verlässlich im Stich lässt. (157)

Manchmal franst eine Zeile in die Absurdität der Dadaisten aus, dann hobelt sich eine frostige Zeile aus der Natur in die vegetative Pause, manchmal tönt eine verschleierte Annotation an ein Kinderlied an, aber letztlich ist es ein präzises Protokoll des Gehirns, das sich hier in Versen an die Wand des eigenen Überlebens stellt.

Die Gedichte Gennadij Gors sind bislang unveröffentlicht, es braucht wahrscheinlich ein paar Schrecksekunden der Rezeption, bis man diese Texte der Leningrader Schreckensjahre überhaupt kapiert. Peter Urban schreibt im Nachwort unverdrossen die Wahrheit und ermuntert die Leser, es trotzdem zu versuchen, diese Texte zu lesen, auch wenn eine ordnungsgemäße Lektüre auf den ersten Blick ziemlich unverfroren erscheint. - Die Blockade wird beim Lesen zu einer Blockade, der man stuff und stumm nichts entgegenzuhalten vermag.

Gennadij Gor, Blockade. Gedichte. [1942-1944]. Russisch / deutsch. A. d. Russ von Peter Urban.
Wien: Edition Korrespondenzen 2007. 238 Seiten. EUR 23,-. ISBN 978-3-902113-52-8.

 

Weiterführende Links:
Edition Korrespondenzen: Gennadij Gor, Blockade

 

Helmuth Schönauer, 02-01-2008

Bibliographie

AutorIn

Gennadij Gor

Buchtitel

Blockade

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2007

Verlag

Edition Korrespondenzen

Herausgeber

Peter Urban

Übersetzung

Peter Urban

Seitenzahl

238

Preis in EUR

23,00

ISBN

978-3-902113-52-8

Kurzbiographie AutorIn

Gennadij Samolovic Gor, geb. 1907 im transbajkalischen Verchneudinsk, lebte in Leningrad, wo er 1981 starb.

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