Tobias Schiefer, Napoleon

Buch-CoverEin kontinentales Gemetzel, wie es Napoleon seinerzeit quer durch Europa vor und wieder zurück durchführen ließ, beflügelt auch nach zweihundert Jahren noch die Phantasie der Schriftsteller.

Tobias Schiefer nimmt für seinen Schlachtentext aus dem Jahre 1812 die Form der Novelle und erzählt aufgeklärt aus heutiger Sicht, wie es wohl einem Kriegsteilnehmer aus der Gegend um Speyer unter Napoleon ergangen sein könnte.

Kalckreuth, der stille Teilnehmer des Russlandfeldzuges, kommt fiebrig, kaputt und komatös an eine Mühle am Rhein, sinkt zusammen und erzählt in Trance eine Novelle des Schreckens. Napoleons Truppen sind in Vilnius stecken geblieben. Offensichtlich weiß Napoleon selbst nicht, was er mit dieser Truppe zu tun gedenkt, es kommt zu einem Desaster, und der Berichterstatter kommt am Schluss zwar irgendwie nach Hause, aber er hat jegliche Koordinaten verloren und ist erledigt.

Im erzählten Ausschnitt der Schlacht spielen neben dem jungen Söldner Kalckreuth, der offensichtlich aus Abenteuerlust zu Napoleon gestoßen ist, der Kommandant des badischen Heers Czarnovsky und der Lazarett-Chef Treskov die tragenden Rollen. In den Gefechtspausen bleibt Zeit, für hitzige Philosophie. So könnten die Sturmbrücken, die rasch über die Neris geschlagen wurden, bei anderen Verhältnissen echte Brücken zu den Menschen sein. Hier in diesem verbunkerten Schlachtausschnitt freilich sind es Brücken in den Tod.

Nach dem Sinn der Freiheit fragt man in solchen Situationen voller Angst und Untergang besser nicht, es gibt nämlich keine. Und Napoleon, einst der Inbegriff für Freiheit, hat die ganze Truppe in die Scheiße geritten und sich dann aus dem Staub gemacht.

Die Gespräche der Aufgegebenen werden immer skurriler und verzagter, im Ausnahmezustand werden letztlich alle Themen zu zwergenhaften Erörterungen.

Wenn die Gespräche nicht mehr helfen, werden vor Angst die Hosen geflutet.

Tobias Schiefer erzählt mit fein geschliffenem Wundschorf die Geschichte individuellen Wahnsinns. Tausendfach nach allen Russlandfeldzügen kommen die kaputten Typen zurück und können sich nicht ausdrücken. Diese Novelle berichtet in einer fast normalen Syntax von der Auflösung jeglicher Sprache und Wahrnehmung.

Die zeitliche Entfernung zu Napoleon und die gepflegte Atmosphäre einer Novelle sind der Versuch, etwas zu erzählen, was normalerweise nicht zu erzählen ist. So kann man als Leser über diesen literarischen Umweg vielleicht verstehen, wie es diesen Söldnern und Friedenscorps heutzutage ergeht, wenn sie aus dem Irak oder Tschad in die Zeit im Bild heim kommen, abgeschirmt, kaputt und die Leere des Einsatzes im Fernseh-Gesicht.

Tobias Schiefer, Napoleon. Novelle.
Innsbruck: Limbus 2007. 122 Seiten. EUR 12,-. ISBN 978-3-902534-06-4.

 

Weiterführende Links:
Limbus-Verlag: Tobias Schiefer, Napoleon

 

Helmuth Schönauer, 21-01-2008

Bibliographie

AutorIn

Tobias Schiefer

Buchtitel

Napoleon

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2007

Verlag

Limbus

Seitenzahl

122

Preis in EUR

12,00

ISBN

978-3-902534-06-4

Kurzbiographie AutorIn

Tobias Schiefer, geb. 1970, ist Autor und Fotograf in Speyer.