Ann Cotten, Nach der Welt

Buch-CoverWer einmal mit einer Liste gearbeitet hat, weiß, dass Listen eigentlich poetisch wie Gedichte sind. Ganze Berufsgruppen machen letztlich nichts anderes, als zuerst Listen zu erstellen um sie dann abzuarbeiten.

So hat eine Lehrerin als erstes eine Liste vor Augen, ehe sie die Schülerinnen in der Klasse begrüßt, ein Lokführer arbeitet anhand einer Liste die Stationen ab, an denen er mit seinem Zug anhalten muss, und Bibliothekarinnen kriegen glänzende Augen, wenn sie Buchlisten erstellen, abarbeiten und im Regal ablegen.

Ann Cotten kümmert sich in ihrem Buch von den Listen um diese Ur-Form des Dichtens. Zuerst einmal erklärt sie den Unterschied zwischen der Konkreten Poesie und dem abbildenden Sprachgebrauch. Beiden Gebieten dient die Liste sozusagen als Null-Form, sie ist fallweise die konkreteste Poesie und der größte Sprachgebrauch in einem.

Nach der Analyse durchwegs witziger Gedichte von Ernst Jandl, "zynischer Listen" von Heimrad Bäcker und Regieanweisungen von Margret Kreidl, kristallisiert sich allmählich das Wesen der Listen heraus. So sind beispielsweise Alltagslisten noch keine konkrete Poesie, erst wenn sie als solche gekennzeichnet sind, ergibt sich daraus das Gedicht. Man sollte aber immer im Auge behalten, ob es sich um eine offene oder geschlossene Liste handelt.

Der Unterschied zwischen einer Liste und einer Serie besteht übrigens in seiner Definition, die jeweils aktuelle Definition einer Liste kann die komplette Liste nicht ersetzen. (88)

Faszinierend sind Listen vor allem wegen der Suggestion, dass das darin Aufgezählte sinnvoll sei. Und auch die Reduktion der Welt auf eine Liste löst magische Reflexe aus, es wird dabei nämlich häufig vergessen zu fragen, was und auf was reduziert wird. (67)

So kommt der Liste schließlich eine dreifache Funktion zu: Archivierung, Normierung und Reduktion, Ästhetisierung. (106) Das sind immerhin auch die wesentlichen Aufgaben der konkreten Poesie.

Die von Ann Cotten ausgewählten Beispiele (Jandl, Bäcker, Bayer) zeigen die mannigfaltigen Einsatzmöglichkeiten der Listen, wobei im dechiffrierenden Falle Heimrad Bäcker die Methode der Nazis, über alle Vernichtungsvorgänge Listen anzulegen den zynischen und bürokratischen Höhepunkt der Listenführung darstellen.

"Nach der Welt" bedeutet soviel wie nach den Vorgaben der sogenannten Welt formuliert, andererseits führt dieser Titel auch auf etwas hinaus, was nach Beendigung dieser Welt stattfinden könnte.

In einem abschließenden Glossar werden so rätselhafte Begriffe wie Null-Form, Herrenliste, Listenwitz, Litanei oder Nicht-Erzählung mit überraschenden Wendungen aufgedröselt.

Ann Cottens Studie vom Zusammenhang der Welt und ihren Listen schärft den Blick auf den Gebrauch der Welt. Genaugenommen gibt es keine Berufsgruppe, die nicht ihr Weltbild in eine Liste gezwängt hätte. Wer die Hinterseite der Listen kennt, kennt auch die Hinterseite der Welt. - Ein witzig vollkommenes Buch!

Ann Cotten, Nach der Welt. Die Listen der Konkreten Poesie und ihre Folgen. Mit einem Nachwort von Wendelin Schmidt-Dengler.
Wien: Klever 2008. 221 Seiten. EUR 15,90. ISBN 978-3-902665-01-0.

 

Weiterführende Links:
Klever-Verlag: Ann Cotten, Nach der Welt
Kunstradio: Ann Cotten

 

Helmuth Schönauer, 01-12-2008

Bibliographie

AutorIn

Ann Cotten

Buchtitel

Nach der Welt. Die Listen der Konkreten Poesie und ihre Folgen

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2008

Verlag

Klever

Seitenzahl

221

Preis in EUR

15,90

ISBN

978-3-902665-01-0

Kurzbiographie AutorIn

Ann Cotten, Nach der Welt. Die Listen der Konkreten Poesie und ihre Folgen. Mit einem Nachwort von Wendelin Schmidt-Dengler.<br /> Wien: Klever 2008. 221 Seiten. EUR 15,90. ISBN 978-3-902665-01-0.