Elisabeth Vera Rathenböck, Die Stunde der Nattern

Buch-CoverEin Kind tippt in das Klingelbord eines Hochhauses eine Geheimbotschaft ein und läutet so jede Menge Bewohner heraus, sein Vater ist gerade ums Eck auf ein Pferd gestiegen und in den Wilden Westen geritten, eine Lehrerin wird Molch genannt, weiß aber nichts von ihrem Kosenamen.

In der Kindheit ist die Schwerkraft generell aufgehoben und die Erinnerung erzeugt feine Bilder und seltsame Figurenkonstellationen.

In Elisabeth Vera Rathenböcks Erzählungen geht es um eine helle Kindheit in einer hellen Zeit. Die Ich-Erzählerin schlüpft noch einmal in die Welt der Vergangenheit, nichts wird beschönigt, niemand gekränkt, kein Verlust beklagt. Es herrscht jener Friede der Erinnerung, der die Ereignisse wahrnimmt aber nicht wertet. So ist alles selbstverständlich und glaubwürdig, etwa jene verrückt gute These, wonach die Kinder geschlechtslose Kinder sind und sich erst später als Erwachsene für ein Geschlecht und die damit einhergehende Rolle entscheiden.

Die Zeitgeschichte von damals ist seltsam verrätselt, eine Verwandte aus der CSSR stößt seltsame Beschwörungsformeln aus, wenn sie von Trickfiguren überfallen wird. Die Menschen von hier nennen das Land einfach ?drinnen, die Figuren sind Comics-Heften entwichen und bewegen sich wie Touristen oder Terroristen kreativ schlendernd durch die Gegenwart.

Noch sind viele Gebiete nicht erschlossen, es gibt wildes Land entlang der Westbahn, worin man sich nach Herzenslust und zukunftssicher austoben kann. Es gibt keine Trennung zwischen Stadt und Land, im Hochhaus lassen sich wunderbar Molche züchten oder Lehrerinnen, im Wald sind die Tiere unschuldig zahm unterwegs, auch wenn sie erotisch gefährlich züngeln wie jene Erotik, die allmählich aus versteckten Mulden und Höhlen aufschreckt und sich über die Kindheit stülpt.

Kindheit hat immer ein jähes Ende, oft ist es ein winziges Ereignis, das die Ausleuchtung verändert und dem Erwachsensein heimlich die Tür öffnet. In der wunderschönen Stunde der Nattern erfährt das erzählende Ich den ersten erotischen Übergriff. "Ich mache die Matura!" (69) flüstert das Ich noch den Lippen des Gegenübers zu, doch dann geht es los dieses neue Gefühl, das die Kindheit beendet. In der Erinnerung zischeln noch Jahre später die Nattern durch das Sommergebüsch, wenn Reminiszenzen an die erste Liebe auftauchen.

Elisabeth Vera Rathenböck erzählt austariert von der Vergangenheit, es war naturgemäß eine schöne Zeit, in der das Land und die Kinder von damals gemeinsam erwachsen wurden. Diesen Geschichten soll man nicht nachweinen, man sollte sie aber auch nicht als Ausflucht zum Klingen bringen. Die sechs Erzählungen vermitteln einen Optimismus, der stracks in die Gegenwart führt. Wer für seine aktuellen Erfahrungen nämlich einen selbstverständlichen Blick entwickelt, dem kann nichts geschehen, ob als Kind oder von Nattern wachgeküsster Erwachsener.

Elisabeth Vera Rathenböck, Die Stunde der Nattern. Bilder einer österreichischen Kindheit in den siebziger Jahren.
Wien: Albatros 2008. 96 Seiten. EUR 12,90. ISBN 978-3-85219-037-2.

 

Weiterführende Links:
Albatros-Verlag: Elisabeth Vera Rathenböck, Die Stunde der Nattern
Wikipedia: Elisabeth Vera Rathenböck

 

Helmuth Schönauer, 02-12-2008

Bibliographie

AutorIn

Elisabeth Vera Rathenböck

Buchtitel

Die Stunde der Nattern. Bilder einer österreichischen Kindheit in den siebziger Jahren

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2008

Verlag

Albatros

Seitenzahl

96

Preis in EUR

12,90

ISBN

978-3-85219-037-2

Kurzbiographie AutorIn

Elisabeth Vera Rathenböck, geb. 1966, lebt in Wien und Steyr/Garsten.