Tanja Maljartschuk, Neunprozentiger Haushaltsessig

Buch-CoverKeine Frage, die ukrainische Gegenwartsliteratur ist etwas vom Frechsten, Lustigsten und Genauesten, was es zurzeit zu lesen gibt.

Tanja Maljartschuk fackelt in ihrem Prosa-Roman Neunprozentiger Haushaltsessig nicht lange herum, sie erzählt unverblümt von einer harten Wirklichkeit und der Leichtigkeit, daraus zwischendurch auszusteigen.

Schon die Eröffnung ist grandios. Eine Ich-Erzählerin oder ein Ich-Erzähler (das Geschlecht lässt sich nicht feststellen) wünscht sich einfach einen Schwanz. Was vulgär genommen nach einer erotischen Phantasie klingt, ist letztlich der Wunsch nach einem Pferdeschwanz, mit dem man bequem die Krümel vom Tisch fegen kann und der auch sonst recht praktisch ist.

Gleich nach dem Schwanz kommt ein Tierarzt zu Wort, er ist gerade Zeuge eines Verkehrsunfalls geworden und während das Mädchen stirbt, betrachtet er wortlos die Szenerie. Später in einer anderen Erzählung treffen wir auf die Eltern, die vom Tierarzt wissen wollen, ob die Tochter noch was gesagt hat. Und dieser lügt auf menschliche Weise und sagt, die Sterbende habe von ihren Eltern gesprochen.

In der Titelgebenden Sequenz hat sich wieder einmal eine gigantische Wirtschaftskrise über das Land gelegt. Vater organisiert am Schwarzmarkt Essigkonzentrat und die Tochter muss tagelang alte Bierflaschen spülen und das Konzentrat so lange verdünnen, bis neunprozentiger Haushaltsessig daraus entstanden ist. Dieser wird dann wieder am Schwarzmarkt verkauft.

In einer Serie über ein entlegenes Dorf dümpelt ein peripherer Ort so vor sich hin. Aber immer wieder machen sich Abenteurer auf den Weg, um die Welt zu erkunden. Oft kommen sie erst nach Jahren zurück und berichten, hinter dem Dorf gebe es ein anderes Dorf und dahinter noch eines und so weiter. Einer schafft es sogar bis nach Afghanistan und wird dort erschossen. Der Vater kriegt etwas Geld und eine Ehrung und denkt sich, dass er den Sohn preisgünstig los geworden ist.

Überhaupt mangelt es in diesem Prosa-Wunderwerk nicht an sarkastischen Erkenntnissen.

Der letzte Hunger im Leben ist immer der größte. (96)

Lapidarer kann man einen Abgang nicht beschreiben.

Aber auch so überlebensnützliche Einrichtungen wie die Familie haben immer eine Hinterseite, von der nichts Gutes zu erwarten ist. Ein Vater schaut zu, wie sich seine Frau und seine Töchter von ihm entfremden. Resignierend denkt er über seine Frau:

Ein Scheusal. Das hat sie extra so eingerichtet. Sich zwei Mädchen geboren und sich mit ihnen gegen mich verbündet, damit ich mich noch mehr als Außenseiter fühle. Aber ich trage ihr nichts nach. Sie ist einfach eine gewöhnliche Frau geworden. Es gibt viele, die so leben. Mit ihren Frauen. Ich bin einer davon. (53)

An einer anderen Stelle behauptet eine Zwölfjährige, niemanden zu haben und von niemandem auf die Welt gebracht worden zu sein. (83)

Ein ukrainischer Fernseher ist imstande, zwei Programme zur gleichen Zeit zu empfangen, so dass Vater den Krieg in Afghanistan betrachtet, während die Kinder dem Traummännlein zusehen. (132)

Am Schluss wird die Erzählerin abgewürgt wie ein Hund, eine grandiose Verbeugung vor Kafkas Prozess, wo ja auch der Held im Steinbruch wie ein Hund stirbt.

Tanja Maljartschuks groteske Prosasammlung verknotet sich mit jeder Seite mehr zu einem Roman, der den Leser gnadenlos durch die ukrainische Zeitgeschichte reißt, voller Häme, Gelächter und mit breitem Finger auf alle Wunden des Landes.

Tanja Maljartschuk, Neunprozentiger Haushaltsessig. A. d. Ukrain. von Claudia Dathe.
St. Pölten: Residenz 2009. 214 Seiten. EUR 18,90. ISBN 978-3-7017-1512-1.

 

Weiterführende Links:
Residenz-Verlag: Tanja Maljartschuk, Neunprozentiger Haushaltsessig

 

Helmuth Schönauer, 28-04-2009

Bibliographie

AutorIn

Tanja Maljartschuk

Buchtitel

Neunprozentiger Haushaltsessig

Originaltitel

To Speak

Erscheinungsort

Pölten

Erscheinungsjahr

2009

Verlag

Residenz

Übersetzung

Claudia Dathe

Seitenzahl

214

Preis in EUR

18,90

ISBN

978-3-7017-1512-1

Kurzbiographie AutorIn

Tanja Maljartschuk, geb. 1983 in Iwano-Frankiwsk, lebt in Kiew.