Mimoza Ahmeti, Milchkuss

Buch-CoverKann man die Welt kennen lernen, ohne krank zu sein, oder ist jegliche Kenntnis nichts anderes als eine Krankheit? (39) - Die sogenannte halluzinierende Frau stellt ununterbrochen seltsame Fragen und erlebt auch sonst die Welt auf völlig ungewöhnliche Weise.

Alle nennen sie bloß die halluzinierende Frau, und auch sie selbst glaubt mit der Zeit, dass etwas an ihr anders ist.

Nach außen hin ist sie schon lange verheiratet, aber der Mann berührt sie nicht, selbst wenn er beim Autofahren die Sonnenbrille von ihrem Schoß nehmen soll, getraut er sich nicht. Dabei ist es nicht einmal Ekel, sondern Berührungsunlust.

Dafür betet ein Jüngling die halluzinierende Frau an und schwärmt von einem Milchkuss, das ist einer von jener leichten Sorte, wo die Zunge den Hals hinauf zischt.

Die halluzinierende Frau ist hin und her gerissen zwischen diesen beiden Typen. Warum müssen wir zwei beieinander bleiben wie zwei kaputte Sicherungen? (69) sagt sie einmal ziemlich verzweifelt.

Die Umwelt reagiert verhalten auf die übersensiblen Kräfte der Frau, nur einmal mit einer deklarierten Verrückten kommt es zum Streit, wer die verrückteren Fügungen im Repertoire hat. Der Psychiater will sie schließlich doch operieren, obwohl dann die Persönlichkeit verloren geht, wie er meint. So versucht die halluzinierende Frau sich selbst treu zu bleiben und ihre gespaltenen Empfindungen auszuhalten, indem sie beispielsweise das Gesicht und den übrigen Körper jeweils an verschiedenen Tagen wäscht.

Eins hatte sie verstanden, die fürchterlichste Droge für den Menschen war das Wort, die Verwendung der Sprache als Manipulationsinstrument. (117)

Milchkuss ist eine verrückt sensible Geschichte über Liebe, Empfindung und Identität. Die halluzinierende Frau spricht dabei Wahrheiten aus, die sehr logisch und leicht klingen, in Wirklichkeit aber ungeheure Anstrengung von der Heldin abverlangen. Hinzu kommt noch das Schicksal eines Landes, das politisch gesehen nach wie vor traumatisiert ist. So erzählt der Psychiater, der in Moskau studiert, hat unverblümt von Stalin, wie dieser die Intelligenz nach getaner Arbeit hat verschwinden lassen. - Und dazu noch diese klare Sprache der Liebe und deren Unmöglichkeit, sie in einem sensiblen Körper auszuhalten. Aufregend intim!

Mimoza Ahmeti, Milchkuss. Roman. A. d. Alban. von Andrea Grill. [Orig.: Gruaja Halucinante, 2006].
Salzburg: Otto Müller Verlag 2009. 134 Seiten. EUR 18,-. ISBN 978-3-7013-1164-4.

 

Weiterführende Links:
Otto-Müller-Verlag: Mimoza Ahmeti, Milchkuss

 

Helmuth Schönauer, 06-12-2009

Bibliographie

AutorIn

Mimoza Ahmeti

Buchtitel

Milchkuss

Originaltitel

Gruaja Halucinante

Erscheinungsort

Salzburg

Erscheinungsjahr

2009

Verlag

Otto Müller Verlag

Übersetzung

Andrea Grill

Seitenzahl

134

Preis in EUR

18,00

ISBN

978-3-7013-1164-4

Kurzbiographie AutorIn

Mimoza Ahmeti, geb. 1963 in Kruja/Nordalbanien, lebt in Tirana.

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