German Sadulajew, Ich bin Tschetschene

Buch-CoverÜblicherweise tritt man als Leser so genannten patriotischen Formulierungen mit gemischten Gefühlen entgegen, und tatsächlich klingen sie auch seit Kennedys Berlins-Sager je nach Tagesverfassung unverfroren oder kitschig.

German Sadulajew erzählt unter der klaren Fügung Ich bin Tschetschene von einer Gegend, von der wir letztlich seit Jahrhunderten fast nichts wissen.

Dabei sitzt der Erzähler in St. Petersburg weit weg von einer Heimat, die aus seltsamen Ritualen, berührenden Mythen und einer völlig unerschütterlichen Regelsammlung für das Überleben besteht. In kleinen Erzählschüben kommen dabei alle jene patriotischen Partikel zum Vorschein, die in der modernen Medienwelt entweder ausgeblendet oder verstümmelt dargestellt werden.

Gleich zu Beginn wird die verwundete Erde beschrieben. So wie jeder im Krieg Ermordete mit weit aufgerissenem Körper herumliegt, ergeht es auch der Erde Tschetscheniens, sie ist aufgerissen und von Historie durchpflügt. Die Menschen fliehen aus dieser aufgewühlten Aura und werden dabei vom Krieg zerfetzt.

Der Erzähler berichtet vom Elend, das dabei über die Familien kommt. Im hohen Alter werden die Eltern vertrieben, was nicht nur Tschetschenen das Herz bricht, die Schwester kommt zu Schaden. Aber flüchtet jemand, so kommen ihm gleich Schuldgefühle, dass er letztlich die Heimat verlassen hat.

In manchen Sequenzen kommt auch das Verrückte jeder Historie zum Vorschein, vielleicht gibt es Tschetschenien gar nicht und ist in Wirklichkeit nur der Name für ein nicht beschreibares und unzähmbares Land.

Das alles geschieht seltsamerweise mit größter Poesie, aus deren Poren der wahre Schmerz in undosierbaren Portionen rinnt. Gleichzeitig wird auch erzählt, was einem Tschetschenen in Russland passiert, wenn er halbwegs selbstbewusst in der russischen Gesellschaft auftritt. Dabei erkennt man jeden Tschetschenen an seinem Gang und an seinen Gesten. Aber ein Tschetschene tritt immer so auf, als gehöre ihm die ganze Welt, auch wenn man ihn morgen schon tötet. (62)

Germann Sadulajews Tschetschenen-Epos ist politischer Kommentar, Lyrik, Patriotismus voller Melancholie und Handreichung in einem. Diesen Text verlässt kein Leser, ohne dass er nicht durch und durch erschrocken ist.

German Sadulajew, Ich bin Tschetschene. A. d. Russ. von Franziska Zwerg. [Orig.: Ja tschetschenez, Jekaterinenburg 2006].
Zürich: Ammann 2009. 155 Seiten. EUR 18,50. ISBN 978-3-250-60136-4.

 

Helmuth Schönauer, 11-01-2010

Bibliographie

AutorIn

German Sadulajew

Buchtitel

Ich bin Tschetschene

Originaltitel

Ja tschetschenez

Erscheinungsort

Zürich

Erscheinungsjahr

2009

Verlag

Ammann

Übersetzung

Franziska Zwerg

Seitenzahl

155

Preis in EUR

18,50

ISBN

978-3-250-60136-4

Kurzbiographie AutorIn

German Sadulajew, geb. 1973 in Tschetschenien, lebt in St. Petersburg.