Marina Lewycka, Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch

Buch-CoverDie Ukraine gilt allgemein als das größte Land des Kontinents, die wahre Größe der Ukraine dürfte aber darin bestehen, dass verstreut auf alle Welt mehr Ukrainer im Ausland leben als auf der eigenen ukrainischen Fläche.

Um dieses Zusammenspiel zwischen Auswandern und historischer Fläche geht es im ironischen Spätfamilien-Roman von Marina Lewycka.

Eine ukrainische Familie ist seinerzeit nach England ausgewandert, die Mutter ist melancholisch gestorben, die beiden Töchter sind schon gut fünfzig und zerstritten. Aufs erste ist es lachhaft, was da dem alten achtzigjährigen Familienoberhaupt dann noch passiert, die Hormone gehen mit ihm durch und er will frisches Blut aus der Ukraine nachkommen lassen und Valentina heiraten.

Ab nun schremmt die Familie am Wahnsinn entlang. Valentina nämlich beutet das neue westliche System der Altersliebe aus, wo es nur geht. Visa, nobles Auto, Hochzeitsaufwand, Privatschule für den mitgebrachten Sohn, erotische Unterwäsche, psychiatrische Gutachten, und schließlich Scheidungskosten fressen alle Familienmitglieder kahl. Die ukrainische Frau, einmal losgelassen, erledigt den Kapitalismus im Alleingang, möchte man sagen. Am Schluss wird der Alte ins Altersheim eingeliefert und lernt dort, die Sonne zu grüßen.

In diese skurrile Geschichte angewandter Beziehungen ist freilich auch die ukrainische Geschichte eingeflochten. Nicht nur, dass immer wieder Erinnerungen wie Amulette aus ferner Zeit in den Erzählungen der Figuren auftauchen, verfestigt wird diese Ukraine der großen Fläche durch das Projekt des Alten, er schreibt nämlich auf Ukrainisch die Geschichte des Traktors.

Der Traktor nämlich ist Sinnbild für den Kommunismus, das edelste Produkt, das die Technik hervorgebracht hat, einerseits das Arbeitstier, das den Acker besiegt und andererseits auch ein Gerät, das mit ein paar Handgriffen zu einem Panzer umgebaut werden kann. Befreiung und Vernichtung sitzen quasi in der gleichen Fahrerkabine. Und während früher auf der Kolchose sich der Traktorist frei fühlte, während er den Acker bezwang und vom Rand aus vom Funktionär überwacht wurde, sitzt der kapitalistische Traktorist heute mit GPS am Acker, fühlt sich frei und wird vom Weltraum aus beobachtet und vermessen.

Der erste Traktor wurde von Jon Fowler, einem klugen und enthaltsam lebenden Quäker , erfunden. Da dieser weder Wodka noch Bier, ja noch nicht einmal Tee zu sich nahm, waren sein Verstand und Denken von einer so außerordentlichen Klarheit, dass manche ihn sogar für ein Genie hielten. (70)

Der Alte schreibt und schreibt und schenkt dadurch der Ukraine die beste Geschichtsschreibung, die ein Land je erhalten hat.

Marina Lewyckas Roman ist gnadenlos witzig, skurril, authentisch und augenzwinkernd.

Marina Lewycka, Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch. Roman. A. d. Engl. von Elfi Hartenstein. [Orig.: A Short History of Tractors in Ukrainian. London Viking 2005].
München: dtv 2006. 358 Seiten. EUR 14,-. ISBN 978-3-423-24557-9.

 

Weiterführende Links:
dtv-Verlag: Marina Lewycka, Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch
Wikipedia: Marina Lewycka

 

Helmuth Schönauer, 03-08-2010

Bibliographie

AutorIn

Marina Lewycka

Buchtitel

Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch

Originaltitel

A Short History of Tractors in Ukrainian

Erscheinungsort

München

Erscheinungsjahr

2006

Verlag

dtv

Übersetzung

Elfi Hartenstein

Seitenzahl

358

Preis in EUR

14,00

ISBN

978-3-423-24557-9

Kurzbiographie AutorIn

Marina Lewycka, geb. in einem Flüchtlingslager in Kiel, lebt in Sheffield.

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