Elfriede Kehrer, schärfe die schatten

Buch-CoverWas haben eine Wand, ein Leintuch und ein frisch eingeschneiter Rasen gemeinsam? Jede kreative Seele wird durch die schreiend leere Flächen ermuntert, zu sprühen, zu markieren oder einfach mit den Füßen durchzuwaten.

Interessante Lyrik besteht vorerst immer aus einer weißen Fläche, die zum Aufzeichnen oder Einritzen herausfordert. Das Weiße zwischen den Zeilen ist quasi die Urleinwand der Lyrik, deren Zeichen und Wörter sich darauf mehr oder minder scharf konturiert bewegen.

Elfriede Kehrer wählt bewusst diesen scharfen Kontrast zwischen animierender Fläche und auf wenige Zeilen reduziertem Text. Der Titel des Lyrik-Bandes ist quasi ein Programm: Schärfe die Schatten ist sowohl ein Befehl, die Sinneseindrücke bis in die dunkelste Schattenlage zu schärfen, andererseits sind die beiden Begriff eine Kürzest-Beschreibung, die Schärfe und die Schatten lösen gemeinsam die leere Bildfläche auf.

Die Reduktion auf wenige Zeilen, ja Silben, gibt den Texten ungeheures Gewicht, wie es vielleicht Inschriften auf Grabsteinen oder Triumphbögen haben.

Manchmal lösen zwei Zeilen eine unheimliche Geschichte aus, wenn es heißt:

an jenem tag / an dem sie sich auslieferte // sang eine lerche (6)

Auslieferungen und schon gar Selbst-Auslieferungen sind ja ein höchst seltener und bemerkenswerter Vorgang, wir Leser wissen nichts davon und sind angehalten, uns einen eigen Reim zu machen, handelt es sich um eine erotische Auslieferung, worauf der Gesang der Lerche anspielt, oder um eine Auslieferung im kriminellen Sinn oder geht die Seele einfach blank zum Psychiater.

Dieser heftige Impetus einer einzigen Zeile löst durchaus eine Geschichte aus, die spitz geschliffenen Satzteile ergeben aber auch hintereinander gelesen wie eine endlose Leuchtschrift einen eigenen Sinn.

wie wir zweige herabbiegen / für uns // im füreinander der farne // meine zweifel / während die beeren reifen // anschauung sein / sagt die blüte // das drängen meiner gedanken im fallwind // immer wieder der abend / an den ich mich verliere // an der rundung der welle singt die flut // der nullpunkt / und seine umgebung // jegliches wort / widerlegt sich am grat. (39-47)

Dieser lyrische Fluss zwingt zur Verlangsamung, während sich das Auge im Begriff verkrallt, treten dahinter Metaebenen auf, ein einziges Wort kann plastisch werden schließlich sogar multi-dimensional. Der Leser wird durch diese magisch zusammengezogenen Wörter selbst verdichtet, die Zeile entpuppt sich vielleicht als transzendentaler Schlitz, durch den der Betrachter eingesogen wird in eine unbekannte Fläche, die offensichtlich hinter dem Weiß der Seite liegt. 

Elfriede Kehrers Gedichte sprechen die Einladung aus, seine eigenen Sinne zu überprüfen, die Assoziationskette mit der Hand nachzufahren, die fixen Gedankengänge aus den Angeln zu heben, kurzum: die Schatten seiner selbst zu schärfen.

Elfriede Kehrer, schärfe die schatten. Gedichte.
Innsbruck: Skarabaeus 2010. 85 Seiten. EUR 14,90. ISBN 978-3-7082-3287-4.

 

Helmuth Schönauer, 01-09-2010

Bibliographie

AutorIn

Elfriede Kehrer

Buchtitel

schärfe die schatten. Gedichte

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2010

Verlag

Skarabaeus

Seitenzahl

85

Preis in EUR

14,90

ISBN

978-3-7082-3287-4

Kurzbiographie AutorIn

Elfriede Kehrer, geb. 1948 in Linz, lebt als bildende Künstlerin und Lyrikerin in Enneberg / Südtirol.

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