Norma Huidobro, Der verlorene Ort

Buch-CoverNichts fordert die Literatur so sehr heraus wie ihr Verweilen am Ende der Welt. Braucht die Literatur überhaupt einen Ort, um existieren zu können? Wird umgekehrt nicht ein entlegener Ort zu einem Weltereignis, wenn zu ihm die Literatur auf Besuch kommt?

In Norma Huidobros Roman geht es um den Rand der Welt. Im "verlorenen Ort" ist rein äußerlich alles reduziert auf das Wesentliche, das Dorf Villa del Carmen ist ein Übergang zwischen Siedlung und Brachland, ein Außenposten der Zivilisation, ein Vorposten des Nichts. Hier zu leben bedeutet offensichtlich Existenz-Luxus, denn außer am Leben zu sein und die Zeit in ihrem Ablauf zu verfolgen, gibt es hier nichts zu tun.

In dieser entlegenen Gegend taucht eines Tages Ferroni auf, er hat eine polizeiliche Mission, denn er soll das Verschwinden einer Frau aufklären. Die letzten Spuren führen zu Maria, die hier ein Ein-Menu-Restaurant führt, die verschwundene Matilda soll nämlich regelmäßig Briefe in das Dorf geschickt haben.

Aber Ferroni beißt mit seinen Untersuchungen auf Granit. Erstens ist er nicht vertrauenserweckend und zweitens besteht der Sinn eines abgelegenen Dorfes letztlich darin, dass etwaige Geheimnisse nicht preisgegeben werden dürfen.

Die meisten Bewohner sind schon fortgezogen und haben nur eine Erinnerung an sie als Spur hinterlassen, kein Mensch kümmert sich um das Leben der Bewohner, die sich aus der Zivilisation hinaus verkrochen haben. Selbst die Zeit scheint eine eigene Entlegenheits-Geschwindigkeit zu entwickeln, indem sie sich entschleunigt.

Zu viel Stille. Eine gelbe Blüte fiel herab, und Ferroni hatte das Gefühl, die Luft ließe sie nicht auf dem Boden landen. Das muss mit der Zeit in Villa del Carmen zu tun haben, mutmaßte er, hier dauert alles länger. In Buenos Aires fallen sie bestimmt schneller zu Boden. (203)

Und dann kommt es doch noch zum Eklat, der Spitzel aus der Zivilisation wird zudringlich, so dass Maria und ihre Großmutter eine Notmaßnahme setzen. - Jetzt ist die Ruhe wieder hergestellt.

Norma Huidobro erzählt vom Ausfransen der staatlichen Ordnung an der Peripherie, von erzählbaren und unerzählbaren Geheimnissen, vom Auseinanderlaufen der Träume in der Zivilisation und dem Verdunsten der Lebensgeister an der Grenze zum Nichts. Der verlorene Ort ist die pure Verdickung des Lebenssinns auf ein paar wesentliche Atemzüge. Spannend, asketisch und sehnsuchtsüppig!

Norma Huidobro, Der verlorene Ort. Roman. A. d. Span. von Sybille Martin. [Orig.: El lugar perdido, Buenos Aires 2007].
Hamburg: Hoffmann und Campe 2010. 223 Seiten. EUR 18,-. ISBN 978-3-455-40157-8.

 

Helmuth Schönauer, 11-10-2010

Bibliographie

AutorIn

Norma Huidobro

Buchtitel

Der verlorene Ort

Originaltitel

El lugar perdido

Erscheinungsort

Hamburg

Erscheinungsjahr

2010

Verlag

Hoffmann und Campe

Übersetzung

Sybille Martin

Seitenzahl

223

Preis in EUR

18,00

ISBN

978-3-455-40157-8

Kurzbiographie AutorIn

Norma Huidobro, geb. 1949 in der Provinz Buenos Aires, lebt in Buenos Aires.