Katharina Riese, Vilma heiratet ihre Enkelin

Buch-CoverDie Vergangenheit schüttet oft in milder Weise halbe Sätze zu, so dass in der Erinnerung bloß noch die skurrilen Teile vom Gesagten oder Erlebten in die Zone der Wahrnehmung ragen.

Katharina Riese erzählt in ihrem Skizzenbuch von einem Mädchen, das in der Nachkriegszeit mit den österreichischen Besonderheiten des Einlebens bekannt gemacht wird.

Im Mittelpunkt der Welt steht Vilma, die Großmutter der Ich-Erzählerin. Während Mutter Irma die meiste Zeit außer Haus ist und arbeitet oder einen neuen Mann sucht, regelt Vilma den Tagesablauf und das ganze Leben überhaupt.

Als ehemalige Arztfrau ist sie auf Einläufe spezialisiert und setzt prophylaktisch gegen alle Wehwehchen oder pädagogischen Ungereimtheiten dem Kind einen Schlauch in den After, dass diesem Hören und Sehen vergeht. Nicht nur während des Einlaufs bekommt das Kind große Augen, manchmal verwandelt sich die Großmutter in einen Wolf, der einen das Fürchten lehrt. (88)

Vater ist offensichtlich gestorben, der Bruder wurde nach Amerika verfrachtet, wo es ihm besser gehen soll. Das Kind lernt unter diesen Rahmenbedingungen Österreich kennen, die Sektorengrenze in Linz, die Grottenbahn auf dem Pöstlingberg, die verschiedenen Sommerseen in Oberösterreich.

Zwischendrin gibt es politische Sensationen, etwa wenn Stalin stirbt oder ein russischer Soldat besonders nett zu Kindern ist.

Während die Mutter immer wieder neue Männer vorstellt, entwickeln sich beim Kind spezielle Präferenzen, aber so viel ist gewiss, wer der Mutter gefällt, gefällt nicht unbedingt dem Kind und umgekehrt. Am Schluss wird geheiratet, und weil Vilma niemanden hat, mit dem sie richtig feiern könnte, packt sie die Enkelin, heiratet sie augenzwinkernd und lässt es beiden gut gehen.

Katharina Riese erzählt in einer mitreißenden Form der Erinnerung. Gleich zu Beginn werden die Figuren aufgestellt wie bei einem Foto, zack! und dann setzt die Erinnerung ein. Die einzelnen Sequenzen sind wie Skizzenblätter ausgeführt, die Stimmung wird eingerahmt, ein Alltagsgegenstand wird in den Mittelpunkt gesetzt und dann sind es immer diese Fügungen aus vergangenen Zeiten, die alles auch nach Jahrzehnten noch bedrohlich oder ironisch erscheinen lassen.

Diese kursiven Satzteile geben Lokalkolorit und Zeitgeist aufs Genaueste wieder. Stern & Hafferl als Verkehrsunternehmen, Wer ist der Täter als Radiosendung, der Zusammenbruch als politische Einschätzung, alle diese Fragmente erhalten durch den kursiven Zug eine Hinter-Geschichte, die jederzeit neu ausgeklappt werden kann.

Die Kindheitsgeschichte hat ihren eigenen Schrecken, der sich meist zwischen den Wort-Bedeutungen der Erwachsenen abspielt. "Vilma heiratet ihre Enkelin" ist ein Buch voller Rätsel, Aufregung und Milde. Die fernen Klänge der Kindheit werden neu angeschlagen, aber dieses Mal klingen sie fast schon harmonisch. Und auch das neue Österreich erfährt seine Kindheit, alle Übel und Feinheiten der späteren holprigen Republik sind hier schon säuberlich ausgelegt.

Katharina Riese, Vilma heiratet ihre Enkelin. Skizzenbuch.
Wien: Sonderzahl 2010. 167 Seiten. EUR 18,-. ISBN 978-3-85449-329-7.

 

Helmuth Schönauer, 09-12-2010

Bibliographie

AutorIn

Katharina Riese

Buchtitel

Vilma heiratet ihre Enkelin

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2010

Verlag

Sonderzahl

Seitenzahl

167

Preis in EUR

18,00

ISBN

978-3-85449-329-7

Kurzbiographie AutorIn

Katharina Riese, geb. 1946 in Linz, lebt seit 1964 in Wien.