Ingeborg Görler, Oder so

Titelbild: Ingeborg Görler, Oder soViel wird ja gerätselt und gemunkelt über die atmosphärisch verschiedenartige Anwendung der Sprache in Deutschland und Österreich. Die kleine Fügung „oder so“ ist so ein Partikel, womit sich verschiedene Anwendung zeigen lässt.

In Deutschland ist „oder so“ eine klar formulierte Alternative, welche die vorausgegangene Behauptung überhöht. In Österreich heißt „oder so“, dass es Wurst ist, was soeben gesagt worden ist, „oder so“ gleicht einer Handbewegung, mit der man alles relativiert, und die etwas von Kafkas Empfehlung in sich trägt: „Gibs auf!“

Ingeborg Görler bringt ihre Gedichte als Alternative zu etwas, was vielleicht schon gedacht worden ist, ans Tageslicht. In vier Kapiteln stellt sie ähnlich einem Jahreslauf verschiedene Vegetationszustände zur Diskussion, es sind immer kleine Probebohrungen in die Poesie, die sich das lyrische Ich antut. Die schmalen Bohrkerne sind dann ausgelegt als Gedichte, die vier Epochen zugeordnet werden.

Und wirst dem Nichtgemeinten bald begegnen (5)
Man fängt jeden Morgen bei Null an (23)
Nach sieben Jahren sehen wir dann weiter (51)
Der Tag und der Tag danach (69).

Diese Positionen kann man sich als kleine lyrische Plattformen vorstellen, von denen sich in unterschiedlicher Wahrnehmungshöhe die Welt poetisch anbohren lässt.

Am Beispiel eines Geleges, wie es dem Läufer neben der Piste jederzeit unterkommen kann, lässt sich dieses allmähliche Hineindunkeln der Wahrnehmungen und Beziehungen in die Vergangenheit erkennen.

Gelege // Die Stimme, die einmal ruft / und danach schweigt, / ist die quälendste. / Als baue sie Nester in die Nacht, / matt leuchtende Nester mit / unsichtbarem Gelege / - dem Erinnern an ihren Ruf. // Lange liegt es unbebrütet. / Trocknet aus. // Bis irgendwann das Nest / gedunkelt ist / und Vergangenheit beginnt. (19)

Auf der Nullstufe der Lektüre, also ohne zusätzliche Informationen, lässt sich dieses Gelege „oder so“ wie ein Gedicht lesen, das sich selbst als Gedicht erklärt.

Dieses „Oder so“ kommt im Kapitel von den magischen sieben Jahren danach als Programm zum Vorschein. Sechzehn Mal beginnen die Gedichte mit „oder so“.

Zum Schluss das Haus bestellen, / quasi besenrein. (68)

Es ist eine faszinierende Vorstellung, das Leben als Flaschenpost zu verschlüsseln und in den Amazonas zu werfen, Ordnung und Auflösung in einem.

Darum geht es ja auch in Ingeborg Görlers Gedichten, die Gegenwart so zu verpacken, dass sie den Wurf in die Zeitlosigkeit aushält. Es beginnt das Spiel mit den letzten Wörtern.

Letzte Wörter / auf dem Dezemberfeld. / Zu ernten nach dem ersten Frost. / Fürs Eisgericht. (88)

Ingeborg Görler, Oder so. Gedichte
Graz: Edition Keiper 2016, (= keiper lyrik 14), 96 Seiten, 15,40 €, ISBN 978-3-903144-05-7

 

Weiterführende Links:
Edition Keiper: Ingeborg Görler, Oder so

 

Helmuth Schönauer, 12-02-2017

Bibliographie

AutorIn

Ingeborg Görler

Buchtitel

Oder so. Gedichte

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Edition Keiper

Reihe

keiper lyrik 14

Seitenzahl

96

Preis in EUR

15,40

ISBN

978-3-903144-05-7

Kurzbiographie AutorIn

Ingeborg Görler, geb. 1937 in Dessau, lebt in Berlin.

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