Jürgen Becker, Graugänse über Toronto

jürgen becker, graugänse über torontoIm Idealfall findet ein Mensch für den Verlauf seines Lebens ein Bild, mit dem er sich durch fremdes Gelände fragen kann, und welches ihn gleichzeitig unverwechselbar macht.

Jürgen Becker hat sich dazu entschieden, die Verdichtung seines Lebenswerkes zu einem Journalgedicht unter das Bild „Graugänse über Toronto“ zu stellen. Vielleicht ist diese Montage von Zugvögeln über einer Stadt das ideale Motiv, fliehend und standfest eine Position einzunehmen.

Nach der Methode des Journalromans hat der Autor sein Werk abermals verdichtet und ist dabei auf das Genre Journalgedicht gekommen. Dabei ist der Succus eines beinahe neunzigjährigen Lebens zu einem neunzigseitigen Langgedicht zusammengeschachtelt, auf jeder Seite freilich gibt es drei Neuansätze, wodurch Atempausen entstehen, eine notdürftige Gliederung akzeptiert wird und unauffällig ein neues Thema vorrückt. Durch diese Verschränkung von Tagesthemen mit dem Lauf der Zeit entsteht ein Rhythmus aus Herzschlag und Poesie, der mit unscheinbaren Motiven zu Tage tritt. So kommt öfters eine Dachrinne vor, welche die Blätter der vergangenen Saison speichert, dem Frost Paroli bietet und Unwetter zu erden versucht.

Das lyrische Ich tritt nur spärlich auf, etwa wenn die Einschläge der Todesnachrichten nicht mehr näherkommen, weil sie schon ganz nah sind. In den Hauptsätzen versucht es fest aufzutreten, mit „man“-Formulierungen, die den Ereignissen etwas Gesetzmäßiges geben könnten. Und in der Hauptsache sprechen die Ereignisse für sich, wenn sich das Scheunendach gesenkt hat (7) oder als Halt Möbelstücke herhalten müssen, die älter sind als die stütz-suchende Hand. (63)

Und immer ist es die Zeit, die sich zu einem Augenblick zusammenklumpt und dann wieder massig Blut in den Körper pumpt.

Ein jeder Augenblick / hat seine Biographie, und die Sonntagszeitung / faltet groß die Woche auf. (39)

Das Journalgedicht ist knapp an der Grenze zur fließenden Prosa angesiedelt, der Fluss der Sätze aber wird durch die Zeilenumbrüche eingedämmt, die graphische Struktur bremst den Gedankenstrom wie ein Netz kleiner Schleusen und Wehre, die das Gefälle innerhalb der Notizkette abbauen. Neue Gedanken setzen in der Zeilenmitte ein und versickern zehn Zeilen später als Gedankenstrich, als Punkte, als offengelassener Klammersatz.

Jede Zeile entwirft eine Dramaturgie, worin Handlung und Schweigen ausgewogen sind.

Das Selbstgespräch / reicht bis zum Rand des Maisfeldes. (41)

Ein Langgedicht dieser Jürgen Beckerschen Dimension hat natürlich kein Ende, es ist auf Zeitlosigkeit, wenn nicht gar Ewigkeit angelegt. Aus purer Vernunft bricht der Autor ab, wohl wissend, dass man so ein Gedicht nicht beenden kann.

[…] Brechen wir ab. Was sich anhört wie / Seufzen, kommt von den alten Dachrinnen her, / die an der Scheunenwand lehnen, und wir lassen / sie stehen, für das Geräusch, das der Wind macht, / wenn er sich darin fängt (92)

Jürgen Becker, Graugänse über Toronto. Journalgedicht
Berlin: Suhrkamp Verlag 2017, 92 Seiten, 20,60 €, ISBN 978-3-518-42752-1

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Jürgen Becker, Graugänse über Toronto
Wikipedia: Jürgen Becker

 

Helmuth Schönauer, 07-07-2017

Bibliographie

AutorIn

Jürgen Becker

Buchtitel

Graugänse über Toronto

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Suhrkamp Verlag

Seitenzahl

92

Preis in EUR

20,60

ISBN

978-3-518-42752-1

Kurzbiographie AutorIn

Jürgen Becker, geb. 1932 in Köln, lebt in Köln und Odenthal.

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