Gay Talese, High Notes

gay talese, highnotesObwohl es im Deutschen kaum originäre Vertreter des New Journalism gibt, verlangt die Gier des Publikums ungebrochen nach guten Reportagen, die das Herz aufrütteln, weil sie immer miterzählen, wie es zu dieser Reportage gekommen ist.

Gay Telese ist der große Meister und Mitbegründer des literarischen Journalismus. Seine Texte sind oft so plastisch, dass sie geradezu nach einer Verfilmung verlangen. Das hat damit zu tun, dass er die Sachverhalte zwar abpixelt, in den Zwischentönen aber immer erklärt, dass ein Medium vor den Dingen liegt wie eine Erzählperson, mit der man in Kontakt treten muss.

In der ausgewählten Reportagen-Sammlung „High Notes“ sind vierzehn dieser mehrfach verschränkten Porträts vorgestellt. Dabei geht es oft nur um Augenblicke, an denen eine große Geschichte losbricht.

„Ein Sonntag zu Kriegszeiten“ zeigt einen Ich-Erzähler, der in der Haut seines Vaters stecken muss, weil dieser ein korrekter Schneider in einer Atlantikstadt während des Krieges ist. Die Farbe des Schulbusses hat dieses rostige Blau, das die Schulnonnen tragen und dem nicht zu trauen ist. Beim Ministrieren schaut er dem Pfarrer so lange beim Flachmann-Trinken zu, bis die Kerzen ausgehen. Während der Messe schmeißt er das Messbuch über die Altartreppe, nach dem Desaster verkriecht er sich im Auto in der Seitengasse. Benzin ist knapp, so dass es nichts wird mit einem größeren Sonntagsausflug. Die Familie geht in ein nahes Restaurant und der korrekte Vater zeigt dem Sohn, wie man Spaghetti isst. Ab morgen soll er mit dem Üben anfangen. - Der Erzähler befindet sich mitten im Krieg mit seiner Umgebung, da erscheint der Weltkrieg drüben in Europa nur als etwas Beiläufiges.

„Vierhundert Kleider“ hinterlässt die einundachtzigjährige Restaurantbesitzerin, als sie stirbt. „Dabei hatte sie noch gar nicht vor zu sterben“, sagen die Angestellten. Der Erzähler lässt die Marotten der alten Frau Revue passieren und greift beim Hinausgehen in den Münzautomaten und siehe, sie hat ihm noch einen Vierteldollar als Wegzehrung für die Trauer hinterlassen.

„Charlie Mansons Ranch im Westen“ geht auf die Episode zurück, wonach der spätere Massenmörder eine Zeitlang mit der Hippie-Gruppe auf einer Ranch gelebt hat. Ihr Besitzer ist blind, aber seine Vorstellungskraft ist umso größer. Aus den Gerüchen und Schreien entnimmt er, dass wieder eine Orgie zu Gange ist. Der Guru erklärt sein Erfolgsrezept bei Frauen: An den Haaren reißen und in den Arsch treten. Dann ist der Trupp weder weg und die Polizei kommt. Der blinde Rancher kann nur Gutes über Manson sagen und dass er Erfolg bei den Frauen hat.

In der Titel-gebenden Reportage „High Notes“ treffen einander Tony Bennett und Lady Gaga für entscheidende Augenblicke im Studio, um gemeinsam einen Song aufzunehmen. Jahrelang haben die Agenturen dieses Treffen vorbereitet und die beiden sind auch völlig relaxt, denn was immer der andere macht, es ist vielleicht nur ein Vorspiel für den großen Sound, der sie dann verschmelzen lässt.

Gay Talese schreibt Psychogramme voller Schlieren und Seelenkurven. Seine Geschichten sind kleine, zerbrechliche Schilfmatten, die vom großen Strom der Psychologie umkräuselt werden, und dennoch sind sie in nuce purer Journalismus.

Gay Talese, High Notes. Reportagen, a. d. Amerikan. von Alexander Weber [Orig.: High Notes. Selected Writings, New York 2017]
Hamburg: Tempo Verlag 2018, 367 Seiten, 22,80 €, ISBN 978-3-455-00288-1


Weiterführende Links:
Tempo Verlag: Gay Talese, High Notes
Wikipedia: Gay Talese

 

Helmuth Schönauer, 20-04-2018

Bibliographie

AutorIn

Gay Talese

Buchtitel

High Notes. Reportagen

Originaltitel

High Notes. Selected Writings

Erscheinungsort

Hamburg

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Tempo Verlag

Übersetzung

Alexander Weber

Seitenzahl

367

Preis in EUR

22,80

ISBN

978-3-455-00288-1

Kurzbiographie AutorIn

Gay Talese, geb. 1932 in Ocean City, lebt in New York.