Eske Schlüters, Alles kann ein Bild von allem sein

eske schlüters, alles kann ein bild von allem seinEine Dissertation ist eine Textsorte, über die schon einmal Rechtschreib-, Gender- und Plagiatsprogramme drübergelaufen sind. In einer barrierefreien Uni kann mittlerweile jeder eine Dissertation abliefern, wenn es nicht klappt, liegt es am akademischen Personal, aber nicht an der einreichenden Person.

Diese in der Öffentlichkeit weitverbreitete Einschätzung soll vor allem eines ausdrücken: wissenschaftliche Texte sind Blasentexte. Verlassen sie ihr Biotop, gelten sie bald einmal als unlesbar.

Dabei gibt es mindestens drei Gründe, warum ein „durchschnittlicher“ Leser ab und zu eine Dissertation lesen sollte. Sie zeigt etwa dem an der Uni vorbei radelnden Rentner, was drinnen in diesem Gebäude erforscht wird. Sie zeigt dem Krimileser, wofür die Sprache auch geeignet ist, wenn sie einmal keinen Mord darstellt. Und sie zeigt fallweise anhand eines größeren Themas, wie der Endverbraucher des Lesens für sich selbst Nutzen gewinnen kann.

Der Nutzen für einen Rezensenten liegt darin, dass er Parallelen zwischen der Aufbereitung eines Themas und der Aufbereitung eines Buches herstellen kann.

Die Philosophie-Dissertation von Eske Schlüters wird hier ausdrücklich nicht wissenschaftlich gewürdigt, sondern außerhalb der Uni-Blase auf dem weiten Feld der Gerüchte, Leseerfahrungen und bemerkenswerten Anekdoten.

Das Zitat „Alles kann ein Bild von allem sein“ geht auf Ludwig Wittgensteins Philosophische Untersuchungen zurück und besticht, wie fast alles von diesem Philosophen, durch die Klarheit der Mehrdeutigkeit. Mit dem Satz an und für sich lässt sich noch nicht viel anfangen, aber jede Äußerung darüber wird plötzlich zu einer eigenen Philosophie.

Somit gleicht die Präsentation dieses Allerweltssatzes dem Auftritt eines Buches, das im Titel einen Allerweltssachverhalt ausdrückt, aber durch die einsetzende Lektüre diesen plötzlich zu einem einmaligen Ereignis macht. Der Rezensent kommentiert im Idealfall das Aufblühen eines Buchumschlags zu purem Sinn.

In der Arbeit von Eske Schlüters dient das Wittgenstein-Diktum dazu, den Gebrauch eigener Texte durch eigene Anwendung zu zeigen. In der Hauptsache geht es um die Transformation, die entsteht, wenn etwas zitiert wird. Die Auswahl der Zitate, ihr kreatives Aufbereiten, damit das herauskommt, was man sagen will, werden in einem Wechselspiel aus Text und Zitat dargestellt.

Die Arbeit hebelt sich mehrmals geschickt selbst aus, um zu zeigen, wie das Montieren von Zitaten zu eigenen Texten führt. Dahinter steckt die Grundfrage: Wer spricht, wenn ich einen Text in Anführungszeichen setze und zum Zitat ummünze?

Beim Lesen einer Dissertation sollte man möglichst nach dem Titel in das Überfliegen der zitierten Quellen hinüberschwenken, in dieser Liste steckt ja der eigentliche Sinn einer wissenschaftlichen Blasenarbeit.

Hauptquellen sind wie immer in philosophischen Gegenwartsfragen kanonisierte Größen wie Ludwig Wittgenstein, Roland Barthes Walter Benjamin, Jaques Derrida und Michel Foucault. Was den emanzipatorischen Ansatz betrifft, braucht es meist Zitate von Gertrude Stein oder Clarice Lispector. Die maßgeschneiderte Quelle für die Bild-Arbeit liefert „Zählen und Erzählen“ von Eva Meyer. In einer Kurzzusammenfassung könnte man sagen, die Semiotik Eva Meyers ist in die Wittgenstein-Phrase eingepflanzt und ergibt eine emanzipatorische Dissertation.

Der angedeutete Feminismus ließe sich dann folgendermaßen ausmachen: Ein weiblicher Standpunkt schaltet sich beim Zitieren dazwischen und sagt, dass es sich um einen männlichen Standpunkt handelt, der Sachverhalt des Zitierten verändert sich freilich nicht. Nach dieser Theorie müsste es also genügen, dass man einer männlichen Arbeit Anführungsstriche verpasst, um sie als männlich zu denunzieren. Dieser Entwertung muss noch keine weibliche Gegenposition hinzugefügt werden. Für diesen Feminismus genügt es, auf das Problem hinzuweisen. Ob man es überhaupt lösen könnte und wie, steht nicht zur Debatte.

Natürlich ist dieses radikale Spiel mit Augenzwinkern zu lesen. Im Prinzip wird jede Anwendung eines Textes durch die Leserschaft gewürdigt. Die Rezipienten werden durch Benutzung den Produzenten gleichgestellt. Um im Wittgenstein-Bild zu bleiben, der Betrachter macht sich sein Bild von allem, was ihm dargeboten wird.

Die angedeutete Individualisierung des Textes durch Zitieren lässt sich durchaus auf das Rezensieren anwenden. Auch hier wird ja ein ausgerolltes Bild zuerst durch individuelle Lektüre gescannt und später als Beschreibung ausgemalt. Im Sinne des Postmodernismus werden diese Zitate freilich vor laufender Kamera ummontiert und die finale Deutung dem Post-Leser überantwortet.

Unter der Hand setzt diese wissenschaftliche Arbeit noch eine raffinierte Botschaft Eske Schlüters als Künstlerin ab. „Seht her, ich spiele euch was vor. Bewertet gefälligst dieses Spiel positiv, denn ich habe mich an eure Spielregeln gehalten.“ Jetzt liegt der Ball wieder in der akademischen Blase, und es bleibt zu befürchten, dass ihn niemand aufnehmen wird.

So lässt sich aus dieser Dissertation eine angewandte Philosophie herauslesen, die sogar Vergnügen bereitet, wenn man „alles im Bild“ ironisch sieht.

Eske Schlüters, Alles kann ein Bild von allem sein
Wien: Passagen Verlag 2021, 238 Seiten, 27,00 €, ISBN 978-3-7092-0482-5

 

Weiterführender Link:
Passagen Verlag: Eske Schlüters, Alles kann ein Bild von allem sein

 

Helmuth Schönauer, 05-01-2022

Bibliographie

AutorIn

Eske Schlüters

Buchtitel

Alles kann ein Bild von allem sein

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Passagen Verlag

Seitenzahl

238

Preis in EUR

27,00

ISBN

978-3-7092-0482-5

Kurzbiographie AutorIn

Eske Schlüters, geb. 1970, ist bildende und schreibende Künstlerin.