Chris Vick, Allein auf dem Meer
„Der Spaß war vorbei. Die Angst lag mir jetzt wie ein kalter Stein im Magen. Ich starrte auf die Rettungsweste, aber meine zitternden Hände wollten nicht wie ich. Ich war immer noch dabei, die Weste anzulegen, als uns eine Welle traf. Ich stolperte und stürzte, ließ die Rettungsweste fallen, ließ sie, vor lauter Dummheit und Ungeschick, einfach los. Ich sah, wie sie davonschlidderte, über das Deck rutschte und ins Wasser fiel.“ (S. 9)
Der 15-jährige Bill aus England trainiert mit sechs weiteren Jugendlichen zwischen vierzehn und sechzehn Jahren für einen Segelwettbewerb. Geführt wird das Boot Pandora von einem Kapitän und seinem Ersten Offizier. Als wie aus dem Nichts ein wilder Sturm aufbraust, erleidet das Segelboot Schiffbruch. Alle, außer Bill, können das Rettungsschlauchboot erreichen.
Bevor das Segelboot sinkt, gelingt es Bill, einige Vorräte und Wasser aus der Kombüse in das Beiboot zu transportieren. Nachdem sich der Sturm gelingt hat, findet sich Bill, orientierungslos inmitten des Atlantik wieder. Ihm ist klar, dass seine Wasser- und Essensvorräte nur für kurze Zeit ausreichen würden. Er beschließt daher seine Gedanken und Gefühle in seinem Notizbuch für die Nachwelt oder zur Erinnerung festzuhalten.
„Liebe Mum, lieber Dad, wenn ihr das hier lest.“ Ich konnte nicht weiterschreiben. Ich war noch nicht so weit.
Am dritten Tag auf dem Meer entdeckt er in der Ferne einen schwarzen Punkt, der sich als treibend Tonne entpuppt, auf dem ein bewusstloses Mädchen angeseilt war. Bill ist erleichtert, dass das vollkommen ausgetrocknete Mädchen zu sich kommt und er sich nicht mehr allein als Schiffbrüchiger auf dem kleinen Boot befindet. Bald schon wird ihm aber klar, dass seine Lebensmittelvorräte nun für zwei Menschen ausreichen müssen.
Bills Freude, dass sich in der Tonne des Mädchens Süßwasser befindet, schlägt rasch um, als er davon krank wird. Das Mädchen kümmert sich um Bill und erklärt, dass sie eine Berberin mit Namen Aya sei, die unterwegs nach Europa, nach Gran Canaria Schiffbruch erlitten habe. Sie spricht Französisch und ein bisschen Englisch. Während Bill versucht die Aussicht zu Überleben mit Vernunft zu berechnen, vertraut Aya auf den Willen Gottes. Für sie haben Geschichten eine zentrale Bedeutung und so erzählt sie Bill die Geschichte von Scheherezade.
Je länger der Schiffbruch andauert, umso mehr beginnen die Nerven bei Bill blank zu liegen und es kommt zu einem Streit. Als eine Meeresschildkröte sich ihrem Boot nähert weigert sich Bill zunächst Aya bei der Jagd zu helfen, weil er das Tier nicht töten will.
Chris Vick erzählt die Geschichte zweier ungleicher Jugendlicher, die durch ein Unglück aufeinandertreffen. Während der Ich-Erzähler Bill aus sicheren sozialen Verhältnissen in England kommt, muss die Berberin Aya, die aus einfachen Verhältnissen kommt, fliehen. Über alle kulturellen Unterschiede hinweg finden sie zusammen und nehmen den Überlebenskampf gemeinsam auf.
Eine überaus spannend erzählte Geschichte mit zwei gegensätzlichen und starken Charakteren, die in einer Extremsituation zueinanderfinden. Dass die sprachlichen Barrieren dabei in kürzester Zeit überwunden und komplexe Gedanken kommuniziert werden können, ist zwar wenig realistisch, scheint jedoch der Handlung geschuldet, die mit eingeschränkte Kommunikation zwischen den Schiffbrüchigen ein wenig inhaltsleer anmuten würde. Vor allem aber, weil Geschichten in diesem Jugendroman eine ganz zentrale Rolle spielen.
Chris Vick, Allein auf dem Meer. Übers. v. Wieland Freund [Orig. Titel: Girl. Boy. Sea], ab 12 Jahren
Weinheim: Beltz & Gelberg Verlag 2022, 272 Seiten, 16,10 €, ISBN 978-3-407-75642-8
Weiterführende Links:
Beltz & Gelberg Verlag: Chris Vick, Allein auf dem Meer
Wikipedia: Wieland Freund
Andreas Mark-Huter, 27-04-2023