Martin Pichler, Nachtreise

Buch-Cover

Jeder hat in seinem Kleiderschrank der Lektüre ein paar Sterbeklamotten hängen. Bei den germanistisch getunten Lesern ist das Hermann Brochs Roman "Der Tod des Vergil", worin es der antike Autor Vergil einfach nicht "derstirbt" und so noch bis zur Ermattung des Lesers das Abendland rettet.

Für Amerikanisten ist es William Faulkners "Als ich im Sterben lag". Darin berichtet einzigartig in der Literatur das erzählende Ich, wie es so beim Sterben zugeht. Und die österreichischen Patrioten haben natürlich Peter Handkes "Wunschloses Unglück" ganz vorne auf der Sterbestange hängen. Während der Sohn die Erinnerungsstücke an die verstorbene Mutter zusammenklaubt, entsteht dieses gepresste Panorama einer hyperharmonischen dörflichen Nachkriegsidylle.

Martin Pichler ist auf dem besten Weg, für die Südtiroler das Sterbebuch schlechthin geschrieben zu haben. Wie schon in seinem ersten Roman ?Lunaspina? geht es um das Leben rund um die kranke Mutter, nur dass jetzt die Mutter tatsächlich stirbt und der Literatur quasi einen endgültigen Stempel aufdrückt.

Durch ihren tatsächlichen Tod entsteht eine Faktenlage, die einerseits der Literatur das spielerische Herumtüfteln mit schweren Gedanken verunmöglicht, andererseits keinen logischen Gedanken zulässt. So entsteht ein Gelee-Zustand, in dem alles von der Endgültigkeit verzuckert und erstarrt ist.

Schon in der Einleitung fragt sich das erzählende Ich, warum man sich das Sterben in der Literatur antun soll, und eine Ermunterung ist vielleicht die Lektüre von Josef Winkler, der die erzählende Kurve unter den Balken des Todes hindurch schafft.
Der Vater des Erzählers warnt diesen noch eindringlich, dass er ja nichts von Krebs und Krankheit schreiben soll. - ?Schau, dass es kein zweites Lunaspina wird!? (142) Auch sonst hält der Vater nicht viel vom schreibenden Sohn, der seiner Meinung nach eigentlich ein Pornograph ist.

Aber die Wörter sagen in diesem Dreiecksverhältnis zwischen notierendem Sohn, sterbender Mutter und hilflos kommentierendem Vater recht wenig. Die Sprache ist in ihrer Anwendung auf ein Geodreieck zwischen den drei agierenden Personen geschrumpft. Lange wird von Gürtelrose geredet, weil das einfach ein barmherzigeres Wort ist als Krebs.

Auch die Tätigkeiten werden immer inniger und einfältiger, die entscheidenden Fragen reduzieren sich auf Schmerzen?, "Schlaf? Hunger? Stuhlgang?? (77) Die kranke Mutter zeigt voller Stolz die Größe der Wurst (53), ?unsere größte Sorge gilt inzwischen ihrem Stuhlgang? (70) Inzwischen ist der Lichteinfall bereits so endgültig geregelt, dass selbst die Jalousien in der Halterung verwuchern.

Der Sohn schreibt und schreibt. ?Erst im Schreiben wird sich mir ihre Geschichte wieder entziehen, wird sie sich sperren gegen ein geordnetes Nacheinander der Ereignisse, gegen ein einfaches Aufschlüsseln von Mutters Beweggründen.? (138) Der Tod wird allmählich zu einem Zustand und hat letztlich gar keinen bestimmten Zeitpunkt mehr.

Martin Pichlers Nachtreise ist ein sehr melancholisches Sterbeprotokoll, irgendwie getragen vom Hauch der Todesliteratur, wie er auf der Germanistik gelehrt wird. Neben dem individuellen Zugang schimmert die aktuelle Landeskultur durch, zwischen den Zeilen vergilbt allmählich das Südtiroler Alltagsleben mit seinen italienische Sprachfetzen, regionalen Verbohrtheiten und Geschäftigkeiten für Täler mit festem Talschluss. Die Nachtreise handelt auch davon, wie man in Südtirol üblicherweise stirbt.

Martin Pichler: Nachtreise.
Innsbruck: Haymon 2005. 169 Seiten. EUR 17,90. ISBN 3-85218-468-1.

 

Helmuth Schönauer, 12-04-2005

Bibliographie

AutorIn

Martin Pichler

Buchtitel

Nachtreise

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2005

Verlag

Haymon

Seitenzahl

169

Preis in EUR

EUR 17,90

ISBN

3-85218-468-1

Kurzbiographie AutorIn

Martin Pichler, geb. 1970 in Bozen, lebt in Bozen.