Elisabeth Wandeler-Deck, Antigone Blässhuhn Alphabet so nebenher

elisabeth wandeler-deck, antigone blässhuhn alphabet so nebenherLiteratur ist jene dünne Haut, die sich schützend zwischen Ordnung und Unordnung stellt. Ohne sie gäbe es weder das eine noch das andere, folglich nichts. Die Literatur erschafft somit die Welt, wie wir sie uns vorstellen.

Elisabeth Wandeler-Deck benützt ihre beruflichen Betätigungsfelder als Architektin, Soziologin und Gestaltsanalytikerin, um aus den jeweils fachlich gestützten Sichtweisen einen großen Text zusammenzustellen, der entlang der Kante von Ordnung und Unordnung aufgefädelt ist. Tragendes Element ist dabei das Alphabet, das freilich in einen Nebensatz gedrängt wird. In der Hauptsache geht es um Antigone Blässhuhn, und das Alphabet „geschieht“ nur so nebenher.

Die Heldinnen Antigone und Blässhuhn entstammen der Mythologie und der Zoologie, sie treten vor allem deshalb miteinander auf, weil dadurch das große Alphabet aller Sparten und Branchen in Bewegung gesetzt werden kann. Ihr Wirken zieht sich längs und quer durch das Buch, bemerkenswert ist ihre Flexibilität fürs Heroische: Sie können die Rollen tauschen und Antigone fungiert als Huhn und das Huhn als Projektionsfläche eines Mythos.

Der Text ist alphabetisch durchkomponiert, jede kleine Prosazelle wird mit einer minimalen Ordnungsnummer versehen, etwa a-01 bis xy-03. Die einzelnen Buchstaben stellen die Abkürzung eines Schlüsselbegriffes dar, „auch“ / „bereits“ / „Chambre“ / „den (Text)“ / „einzelne“ und so fort. Letztlich sind es universell einsetzbare Partikel, die einem Text jene Häkchen verschaffen, mit denen er zu einem großen Netz andocken kann.

Neben dem Zufälligen und Beiläufigen sind es vor allem die Ortsnamen, die zwischendurch eine feste Verortung suggerieren. Freilich sind wie die Heldinnen A und B diese Orte austauschbar und können an jedem erdenklichen Winkel der Welt zur Bodenständigkeit einer Geschichte führen.

Als Erzählform sind alle Textsorten vertreten, die das Vignettenhafte, Minutiöse oder Kleinodische zu beherbergen wissen. In der Hauptsache sind es Anrisse von Gedichten, Prosaminiaturen und zu Notizen verkürzte Thesen.

Thesen-Fragmente sind überhaupt das schlaueste, was sich formulierten lässt, denn in ihrer Bruchstück-Struktur reagieren sie ähnlich wie der berühmte Impfstoff auf mRNA-Basis. Mit einer Träger-These lässt sich so gut wie alles beschreiben.

Die Bausteine starten oft mit einer Floskel und entwickeln durch Wiederholung eine Art erzählerischer Litanei. „Während ich keine Zeit fand. / Während Namen Blässhühner. Wäerend Blesshühner abtauchen, weiß man nie, wo sie wieder auftauchen.“ (b-19) Die Erzählung von Türgeräuschen gerät überhaupt zu einer puren Aufzählung von „Klang-tun-Wörtern“. c-22: Türgeräuschwörter: klappern schlagen krachen ächzen quietschen brechen knallen knarren knarzen scheppern.

Bei solchen Vorratsgedichten stellt sich die Frage, was man damit anfangen könnte. – Natürlich erzählen. Bei etwas großzügiger Auslegung lassen sich die Türgeräusche in den Feldern Architektur, Psychologie oder Soziologie bestens verwenden. Oder umgekehrt formuliert: Es braucht immer wieder eine Tür, die außer ihrer Funktion als Schleuse etwas macht, was Selbstzweck ist.

Die daran anschließenden Schnappsätze greifen auf Situationen zurück, worin jemand eine Situation aufschnappt oder in Schnappatmung gerät.

Im Kapitel „Landschaft“ wird exemplarisch vorgeführt, wie sich diverse Arten von Landschaften durch Beschreibung manifestieren. Die These lautet: Mit einer Landschaft lässt sich für sich genommen nichts Anderes anfangen, als sie zu beschreiben. Sinnigerweise sind diese Beschreibungsversuche unter „r wie rückwärts“ abgelegt. Vollkommene Landschaften funktionieren eben in beide Richtungen.

Eine Aufgabe, die im Umgang mit Erzählmaterial immer im Auge behalten werden sollte, ist das Entfernen von Schwachstellen, toten Zweigen und abgearbeiteten Terminen. Das Zauberwort heißt „tilgen“ und wird vor allem bei der Arbeit „in Regalen“ eingesetzt. Dieser Erzählabschnitt scheint eine Anleitung für Bibliotheksarbeit zu sein, wobei ständig in Regalen herum gearbeitet werden muss, sei es, um Inhalte zu tilgen oder einfach nur das Alphabet anzuwenden, das für sich genommen eine Art Regal-Mythos zwischen Antigone und Blesshuhn zu sein scheint.

Im Anhang sind zwölf Anmerkungen darauf aus, Kategorien vorzustellen, die in einer Anmerkung Platz haben könnten. Neben dem gängigen Link, der im Netz auf einen Artikel verweist, sind es die Klassiker Essay-Zitat, Querverweis, Eigenzitat, Merksatz aus einem Lehrbuch, Filmzitat oder Hinweis auf Wikipedia.

Elisabeth Wandeler-Deck hat einen Faden ausgelegt, der schlüssig durch das Material führt. Beim Abwickeln dieses Fadens freilich entdeckt der Leser ständig neue Abzweigungen, die auf entfernte Pisten führen. Der Leser gleicht in diesen Augenblicken einem Boden-Piloten, der auf einem gigantische Rollfeld Nummerierungen nachfährt in der Hoffnung, mit seinem Flieger auf die richtige Piste zum Abheben zu gelangen.

Elisabeth Wandeler-Deck, Antigone Blässhuhn Alphabet so nebenher oder Über den Durchgang einiger Personen durch eine relativ kurze Zeiteinheit
Klagenfurt: Ritter Verlag 2022, 184 Seiten, 19,00 €, ISBN 978-3-85415-646-8

 

Weiterführende Links:
Ritter Verlag: Elisabeth Wandeler-Deck, Antigone Blässhuhn Alphabet so nebenher
Wikipedia: Elisabeth Wandeler-Deck

 

Helmuth Schönauer, 10-07-2023

Bibliographie

AutorIn

Elisabeth Wandeler-Deck

Buchtitel

Antigone Blässhuhn Alphabet so nebenher oder Über den Durchgang einiger Personen durch eine relativ kurze Zeiteinheit

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Ritter Verlag

Seitenzahl

184

Preis in EUR

19,00

ISBN

978-3-85415-646-8

Kurzbiographie AutorIn

Elisabeth Wandeler-Deck, geb. 1939 in Zürich, lebt in Zürich.