Christian Kössler, Schatten über dem Inn
Wer eine Stadt wirklich erkunden will, muss hinter die Fassaden der Häuserzeilen blicken. Während das Navi gute Dienste leistet beim Abschreiten der Objekte, braucht es für die Geister, die dahinter stecken, meist ein Archiv, worin die historischen Seelen gespeichert sind. Die Aufgabe eines Seelen-Erweckers besteht darin, die einzelnen Quellen ausfindig zu machen und ihnen den Stöpsel zu ziehen, um die flüchtigen Gespenster in die Gegenwart zu entlassen.
Christian Kössler hat als Bibliothekar einen sechsten Sinn für makabre, gruselige und hintersinnige Geschichten entwickelt. In regelmäßigen Abständen schreitet er diverse Archivregale ab, nimmt Sagenbücher und Quellen-Schwarten aus dem Regal und zieht den Büchern den Stöpsel. Dadurch entlässt er eingesperrte Geister und tritt mit ihnen anschließend vor einem fröhlichen Publikum auf.
Mittlerweile sind seine „Gruselabende“ legendär, nicht nur um Halloween oder Sommerwende herum tritt er mit seinen Geschichten auf, durch seine Mitschriften zu abenteuerlichen Begebenheiten ist er längst zu einem anerkannten Buchautor geworden, der seinen Lesern vor dem Einschlafen noch eine Portion Gänsehaut verpasst.
Dem Grusel wohnt ein ähnlicher Zauber inne wie in den Tricks der Magier, weshalb seriöse Rezensenten nur über die groteske Aura sprechen, aber keinesfalls die einzelnen Kniffe verraten.
In der Buchhandlung Wagner’sche erscheint schon seit einiger Zeit eine haptisch anspruchsvolle Kleinserie über Innsbruck, worin die einzelnen Stadtteile porträtiert, schräge Kalauer exhumiert und mündliche Bestseller ans Tageslicht geholt werden.
In diese Serie passt bestens „Schatten über dem Inn“, worin siebzehn unheimliche, sagenhafte und gruselige Geschichten aus Innsbruck versammelt sind. Ein gemeinsames Merkmal dieser Storys ist es, dass die Heldinnen und Heroen am Schluss alle den „wohlverdienten Innsbrucker Nervenzusammenbruch“ (224) konsumieren.
Die einzelnen Sequenzen der dritten Art werden jeweils mit einem Zitat aus einer gesicherten Sagenquelle eingeleitet, es folgt der handverlesene Innsbrucker Horror, während ein sogenannter „Faktencheck“ die Episode abschließt.
In der Starter-Story wird die verbürgte Maßnahme verängstigter Bücher-Besitzer vorgestellt, wonach man das Buch gegen Diebstahl versichert, indem man einen Fluch darüberlegt. Sollte das Buch geklaut werden, trifft der Fluch dem Dieb mit voller Wucht, sodass er sein Leben lang nicht mehr froh wird.
In grotesker Weise tritt eine Userin des historischen Lesesaals zu Innsbruck auf, sie studiert die Raritäten des Bibliothekswesens, und wenn ihr ein Buch besonders ins Auge sticht, bestellt sie es antiquarisch im Internet und lässt es sich von einem Paketdienst zustellen. Als gewiefte Leserin weiß sie, dass sie selbst verflucht wäre, wenn sie ein Buch stehlen würde. An der Uni-Bibliothek sind nämlich alle Bücher mit einem Fluch versehen, und sei es nur, dass eine Mitarbeiterin ihn aus Versehen während der Arbeit ausgesprochen hätte.
Trotz aller Vorsicht geraten ihr manchmal Figuren außer Kontrolle, und verschwinden unter Umgehung des Schutzfluches im nächtlichen Innsbruck. Dabei springen sie spontan vor das nächstbeste Fahrzeug, wie ein Pizzabote leidvoll erfahren muss.
Die Geschichte wird mit einer Notiz, „Fact“ genannt, abgeschlossen, worin der Bücherfluch „wissenschaftlich“ erklärt wird. Neben dem Gruseln, das bei der entsprechenden Lese-Performance ausgelöst wird, ist auch das Long-Covid der Geschichten beachtlich. Leser zucken oft noch Monate nach der Geschichte zusammen, wenn ihnen ein Schatten vor die Kühlerhaube springt oder im Inhaltsverzeichnis eines Buches eine wichtige Figur fehlt, weil diese mit einem Riss in der Buchseite ausgewandert ist.
Ähnliches zwischen Realität, Phantasie und handfestem Auslöser trägt sich zu, wenn ein Clown sein Kostüm missbraucht und nicht mehr in die Realität zurückfindet. So sehr er auch bittet und bettelt, eine psychische Störung fällt wie ein Schatten über ihn her und bringt gleichzeitig seinen Arzt zur Verzweiflung, der gerade remote eine Gartenzwergattacke bei einem anderen Patienten abgewehrt hat.
In Feierabendstimmung brechen drei Typen auf, um in Hötting einen scharfen Abend zu verbringen. Aus Übermut schnitzen sie aus einem Holzscheit eine Figur, die ihnen aber sofort die Leviten liest und einen elementaren Schrecken einjagt. Ohne es zu wissen haben sie nämlich beim Schnitzen eine Sagen-Schlagader getroffen und eine längst erledigte Geschichte wieder zum Funktionieren gebracht.
Den hitzigen Schluss dieser phantastischen Orgie setzt eine Friseurin, der die Trockenhaube entgleist. Statt schöner Dauerwellen produziert diese plötzlich formvollendete Pirouetten mit den Konturen eines Krampus. Auch hier ist die Faktenlage eindeutig: In den Alpen kommt es immer wieder zu Krampus-Auftritten, die von Gerassel begleitet sind, das nicht nur bei Kindern Schrecken auslösen kann.
Christian Kössler legt einen wilden Schatten über die Stadt, der sich aber schon während des Vortrags löst. Entspannung durch Gruseln ist angesagt, weshalb auf psychische Triggerwarnungen verzichtet werden kann. Die Innsbrucker Sagen und Schatten sind absolut kinderfreundlich und lassen Alt und Jung pointiert erschaudern.
Christian Kössler, Schatten über dem Inn. 17 unheimliche, sagenhafte und gruselige Geschichten aus Innsbruck
Innsbruck: Wagner’sche Verlag 2023, 231 Seiten, 14,95 €, Wagner-BN 2023100000044
Weiterführende Links:
Wagner’sche Verlag: Christian Kössler, Schatten über dem Inn
Wikipedia: Christian Kössler
Helmuth Schönauer, 31-01-2024