Franzobel, Einwürfe
Literatur ist Fußball und Fußball ist Literatur. - Diese simple Gleichung, die seinerzeit der Wunder-Germanist Wendelin Schmidt-Dengler formuliert und über sämtliche Alltagsmedien verbreitet hat, ist Kern einer Theorie geworden, der sich eine ganze Generation von österreichischen Schriftstellernden verpflichtet fühlt. Plastischer Ausdruck dafür ist die Gründung des österreichischen Autorenfußballteams, das schreibend in professionellen Trikots auftritt und neben Autogrammen auch literarische Texte schreibt.
Franzobel ist in Theorie, Arbeitsleistung und Können wahrscheinlich der Spitzenmann dieser Doppelkultur Fußball-Literatur. Gekonnt nennt er seine Sportkolumnen „Einwürfe“ und bringt diese tatsächlich jeweils in den passenden Strafraum, der sich im konkreten Fall als Kulturseite der Kleinen Zeitung Graz erweist, von wo aus zum eleganten Torschuss angesetzt werden kann.
Das Genre „Einwürfe“ hat die Fähigkeit, mit Datum versehen einen aktuellen Fall aufzurollen, ohne Datum gelten diese Kleinodien als Bausteine für ein kulturgeschichtliches Gemälde zur Gegenwart.
Die einzelnen Geschichten sind zwischen 2020 und 2023 in der „Kleinen Zeitung“ in Graz erschienen. Jetzt, als vergnügliche Episoden untereinander gedruckt, ergeben sie einen brauchbaren Überblick über unser Verhalten, wie wir kulturell-sportliche Ereignisse rezipieren und für uns individuell verwerten. In der Distanz einer abgelaufenen Spielsaison gelesen, erfüllen die Einwürfe etwa die Aufgabe von Theater- oder Konzertrezensionen, sie destillieren das Einmalige einer Aufführung heraus, ohne es auf einen einmaligen Abend zu verkürzen.
Natürlich brauchen diese Ereignisse eine einmalige Sprache, und der Poesie-Magier Franzobel gibt sie ihnen. Über eine Fußballweltmeisterschaft formuliert er etwa das österreichische Ziel: Man will als Erster heimkommen, aber nicht als erstes. (9) Freilich bleiben die „Unsrigen“ oft ein Geh-Heim-Favorit. (13)
Zum österreichischen Fußball-Dialekt gehört es, dass man es mit der Bedeutung der Wörter fallweise nicht so genau nimmt, wenn nur ihr Klang stimmt. Aus dem geplanten „hochstilisiert“ wird da leicht einmal ein „hochsterilisiert“ (10), was aber für heimische Verhältnisse ziemlich viel Sinn macht.
Eine Spezialität, für die man europaweit wahrscheinlich Lizenzgebühren zahlen muss, ist der sogenannte „Prohaska-Dativ“ (53), die finale Anwendung der Usance des Wienerischen, im Zweifelsfall dem Dativ eine Chance zu geben.
Der Begriff „Spielerfrauen“, der vor dem Durchbruch des Frauenfußballs ziemlich anrüchig geklungen hat, ist mittlerweile jeder Erotik entkleidet und auf den Ball fixiert.
Resümee dieser Sprachanalyse: Nicht das Erreichte zählt, das Erzählte reicht. (42)
In den „Einwürfen“ spielen kluge Denk-Pioniere die Hauptrolle, wenn einem Schiedsrichter vor dem Anpfiff empfohlen wird, Kleists „Michael Kohlhaas“ zu lesen, um das Wesen von Eskalation zu begreifen (19), wenn eine empfindsame Seele die diversen Nebel-Sorten in Poesie und auf dem Spielfeld unter dem Begriff „Nebelsuppe“ auszulöffeln beginnt, oder wenn dem Kärntner Fußballstar Hinteregger das Adelsprädikat „Der Unverbogene“ verliehen wird.
Manche Kolumnen stützen sich auf eine Notlage, wenn der Ruf der Natur die Akteure während des Spiels auf die Toilette zwingt, andere auf die Lust zur Ästhetik, wenn es um ein schönes Zwei-zu-Null geht, weil dieses dem Autor seinerzeit durch die Schriftzeichen „Frankreich 2:0 Belgien“ zum Markenzeichen „Franzobel“ verholfen hat.
Die schwersten Einwürfe geschehen an einer Linie aus dem Literaturbetrieb: Der Autor steht während einer Dichterlesung an seiner eigenen Textlinie und schielt mit einem Auge auf das ausgelegte Handy, auf dem der Live-Ticker eines wesentlichen Spiels gegen Moldawien rennt. (56) Allmählich fließt der vorzutragende Text über das Display hinüber zur Out-Linie, an die das Buch als Floß angelegt hat. Der Zustand führt zu einem Theorem: „Literatur nacherzählen ist genauso frivol, wie ein Spiel nachzuerzählen. Ein Buch lesen heißt eher, es nachzuspielen.“
In der zweiten Hälfte, süffisant mit „& andere Sportarten“ überschrieben, kommen kulturell wirkende Personen, Handlungen und Devotionalien zu ihren Auftritten.
Die legendären Bildbände über die Olympischen Spiele in Innsbruck und anderswo werden seit Generationen angebetet und vererbt, wie früher Devotionalien im Herrgottswinkel.
Amerika ist letztlich groß geworden, weil es das weltbeste Design für Sportvereine entwickelt hat, man vergleiche die Kulturmacht in den Schriftzügen der Baseballmannschaften mit dem Gekritzel von „Ostbahn Koks“.
Die Sportart „Surfen“ ist so überirdisch schön, dass sie auf dem heimischen Bildschirmen nicht vorkommt, sie würde diesen nämlich sofort durch Überblendung zerstören.
Der Osttiroler Radstar Felix Gall hat kraft seines Namens die Chance, ein „galaktischer Typ“ zu werden.
Bergsteiger am Everest, die an einem Toten vorbei klettern, verhalten sich genauso moralisch wie Straßenpassanten, die an einem Obdachlosen vorbeiflanieren, der vielleicht schon tot ist.
Die schwarzweiß gehaltenen Stockbilder zeigen Sportarten in typischen „Einwurf“-Situationen. Einwurf heißt in diesen Fällen: Es geht los, es geht weiter, der Ball ist wieder im Spiel. Ein Kind bringt mit dem Queue die Kugel ins Spiel, Ruderer werfen die Ruderblätter ins Wasser und nehmen Speed auf, zwei Boys in spartanischem Ambiente werfen die Arme in Brusthöhe und legen mit dem Boxen los, eine Tennisspielerin zeigt mit dem Racket in jene Gegend, in die sie den Ball aufspielen wird, ein Schispringer wirft sich als Ganzes in die Landschaft, zwei unterschiedlich gekleidete Horden werfen sich im Sprachraum (= Strafraum) dem Ball entgegen.
Franzobel forciert mit seinen Kolumnen jene Aufbruchsstimmung, in der die Literatur am Ball bleibt.
Franzobel, Einwürfe. Die besten Sportkolumnen
Klagenfurt: Ritter Verlag 2024, 208 Seiten, 23,00 €, ISBN 978-3-85415-667-3
Weiterführende Links:
Ritter Verlag: Franzobel, Einwürfe. Die besten Sportkolumnen
Wikipedia: Franzobel
Helmuth Schönauer, 06-06-2024