Tim Burton, Das traurige Ende des Austernjungen

Buch-Cover

Illustrierte Kleinodien wie der Struwwelpeter oder Der kleine Prinz haben vielleicht deshalb Kultstatus erreicht, weil sie unsterblich schöne Sätze und Ikonenhafte Zeichnungen zu vereinen wissen.

Tim Burton, der Erfinder von fantastischen Kult-Filmen, gibt sich zwischendurch auch als Reimer und Buchillustrator die Ehre. ?Das traurige Ende des Austernjungen ist so ein schmales Frühstücksbuch, mit dem man den Tag vielleicht sinnvoller starten kann als mit der Lektüre einer hanebüchenen (Tiroler) Tageszeitung.

Das Wesen dieser feinen Geschichten besteht darin, dass die Dinge ein Eigenleben entwickeln, dass Speisen sprechen können, und dass so skelettlose Lebewesen wie eine Auster ein Rückgrat entwickeln.

Zum Frühstück passen diese Geschichten insofern, als sie einen Betrachter voraussetzen, der es mit der Wirklichkeit des Tages noch nicht so genau nimmt. So spricht plötzlich das Glotzauge zum Betrachter und erzählt in kleinen Zweizeilern eine ungeheure Begebenheit:

Sie konnte stundenlang glotzen, und keiner kapierte worauf. (25)

Betrachtet man das beigefügte Glotzauge, so gerät man als Leser wie bei einer Hypnose in Trance und lässt sich jede Geschichte einreden.

Ein Streichholz ist schwer verliebt und brennt vor Sehnsucht ab, ein Roboterjunge wird mit einem Mülleimer verwechselt und dementsprechend aufgefüllt, ein Pinguin steht vor einer strichlierten Tapete und verliert trotz Strichcodes seine Identität.

Und dann taucht dieser Austernjunge auf, er gilt als Wunschkind und bezaubert mit seinem weichen Kern und seiner harten Schale alle Pädagogen und anderen Ratschlag-Typen. Freilich hat er die unangenehme Eigenschaft, streng zu riechen, wenn er zu lange im Bett liegt. Wie es dem Lauf der Welt entspricht, wird der Austernjunge von einem Feinschmecker am Strand einfach aus der Schale gesoffen und verschluckt. Das Austernehepaar nimmt das aber weiter nicht tragisch, begibt sich stracks zur Paarung und probiert, dieses Mal ein Mädchen zu machen.

Hin und her geschwenkt zwischen Kalauer und Überlebensphilosophie entwickeln Tim Burtons Geschichten eine Eleganz zwischen Nonsens und Welt-Sinn. Und was ein grober Reim vielleicht noch an Eindeutigkeit vermasseln könnte, wird durch eine eindeutige Zeichnung fixiert. Das sind graphische Leckerbissen, wenn der Austernjunge ausgeschlürft wird, ein Stück Brie-Käse optisch zu stinken beginnt oder ein Schmutzfink in eine neue Verkleidung schlüpft.

Ja und ein philosophisches Weltbild, das dem fliegenden Robert im Struwwelpeter entspricht, ist natürlich auch vorahnden. Hinter drei Dünen verschwinden zwei Spuren im Nichts und man ahnt, dass hier etwas Gigantisches gezeugt wird.

Tim Burton, Das traurige Ende des Austernjungen und andere Geschichten. Ill. A. d. amerikanischen Englisch von Katja Sämann. [Orig. The Melancholy Death of Oyster Boy Et Other Stories, 1997]
Berlin: Quadriga 2011. 121 Seiten. EUR 15,50. ISBN 978-3-86995-006-8.

 

Helmuth Schönauer, 29-11-2011

Bibliographie

AutorIn

Tim Burton

Buchtitel

Das traurige Ende des Austernjungen und andere Geschichten

Originaltitel

The Melancholy Death of Oyster Boy Et Other Stories

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2011

Verlag

Quadriga

Übersetzung

Katja Sämann

Seitenzahl

121

Preis in EUR

15,50

ISBN

978-3-86995-006-8

Kurzbiographie AutorIn

Tim Burton, geb. 1958 in Burbank / Kalifornien, lebt in London.