rudolf habringer, diese paar minutenWährend man bei einem Roman davon ausgeht, dass er zum Augenblick seiner Vollendung mit Ort und Zeit als Quelldaten fixiert wird, zeigen sich Erzählbände oft als Bunter Text-Kessel, der an mannigfaltigen Orten aufgekocht und über Jahrzehnte eingedickt worden ist.

Rudolf Habringer nennt seine Titel gebende Erzählung „diese paar Minuten“. Dabei geht es um einen jähen Zeitanschnitt, von dem erst hinterher klar ist, dass er einen wesentlichen Einschnitt in das Leben verursacht hat. Das Thema ist schier unendlich: Wie verlaufen Schicksalslinien in der Fläche der Gesellschaft? Wer trifft wann auf wen und verursacht dabei ein Unglück? Wie lange muss pure Zeit unter Druck stehen, ehe sie sich entlädt und Helden zum Implodieren bringt?

felix philipp ingold, die zeitinselpätestens seit Daniel Defoe gilt ein entlegenes Eiland als ideale Erzählfläche, um darauf Lebens- und Weltentwürfe spielen zu lassen. Wenn diese Insel dann noch einer definitiven Zeit entrückt wird, indem quasi jede Zeit auf der Insel Platz hat, dann erweist sich die „Zeitinsel“ als höchst verdichtetes Material, das astrophysikalisch vielleicht an ein schwarzes Loch herankommt.

Felix Philipp Ingold konstruiert seine Zeitinsel als Kunstfläche, auf der sich Projekte, Biographien, Spintisierereien und Träume installieren lassen. Im Untertitel nennt er dieses Unterfangen „Stationenbericht“, es könnte also mit einer kultur-sportlichen Veranstaltung verglichen werden, auf der man sich während des Rundlaufs allerhand Stempel ins Lektüreheft stempeln lässt als Beleg, dass man die Stationen aufgesucht hat.

irena wondratsch, kein flugzeug am himmelDem Tagebuch ist es egal, was in der Welt draußen passiert, es schreibt sich zwischen den Buchdeckeln von selbst voll.

Die Momentaufnahmen von Irene Wondratsch erstrecken sich wie eine riesige Pinnwand über den Zeitraum von April ‘20 bis Februar ‘22 unter dem seltsam leerfegenden Titel: „Kein Flugzeug am Himmel“. Ein leerer Himmel bedeutet Ausnahmezustand, die Leuchtkörper sind aus dem Firmament gefallen, die Witterung ist mehrdeutig, die Blickwinkel Fenster und Mansardenfenster ergeben nur wenig Plastizität für das Nichts.

eva schreiber, eine ahnung vom ende des glücksGlück ist ein treffsicheres Wort, denn alle Sätze damit sind richtig. So lautet eine besonders freche Definition: Glück ist das Ablaufdatum, an dem „es“ vorbei ist.

Eva Schreiber schickt in der Titelgeschichte „Eine Ahnung vom Ende des Glücks“ (131) die beiden am Leben gereiften Freundinnen Ilse und Traude in ein Gespräch, bei dem sie durchaus einen kleinen Schluck Alkohol zu sich nehmen dürfen. Kein Wunder also, dass sie bald auf Glücksmöglichkeiten zu sprechen kommen, die es mit dem Geist aus der Flasche aufnehmen. Beide haben die Kinder erwachsen außer Haus gebracht und die Männer dazu. Wie beim Ausfüllen eines Kreuzworträtsels spielen sie die üblichen Glücksvorstellungen durch und kommen zum Schluss, dass allem der Zauber des Endes innewohnt. Die Beziehungen müssen wohl beendet sein, damit man sie als schön empfinden kann. Aber Traude staunt nicht schlecht, als sie am nächsten Tag beim Zahnarzt sitzt und im Warteraum die Magazine durchgeht, die alle von Wellness und Happiness handeln. Gibt es eigentlich etwas, das nicht glücklich macht? Selbst der Zahnarzt kann zu einem euphorisierenden Gefühl beitragen, wenn der Termin vorbei ist.

ulrike kotzina, melange an der donauDie zwei positiven Zutaten Fluss und Getränk ergeben bei gutem Licht ein anregendes Denk- und Sitzklima. „Melange an der Donau“ beschreibt eine Menge Stimmung, die in einem Stillleben kulminiert, worin bei guter Witterung Menschen im Freien sitzen und auf die Donau blicken, während sie die Melange umrühren.

Ulrike Kotzina hat in ihre „Erzählmelange“ elf Geschichten gepackt, die aber nicht über ein Inhaltsverzeichnis abrufbar sind, sondern nach dem Muster eines Romans durch chronologische Lektüre erarbeitet werden müssen. Wie bei einer echten Melange gehen die Zutaten fließend ineinander über und führen Licht und Schatten, Süßes und Bitteres, Ernst und Ironie zusammen, bis sich daraus der Grundton entwickelt: eine melancholische Heiterkeit.

martin schwietzke, der hundeausführroboterausführhundIm Zeitalter von Hashtag-Überschriften ist es durchaus üblich, den Plot einer Nachricht in ein zusammengepresstes ZIP-Wort zu verpacken. Die deutsche Sprache neigt ohnehin zu Wortverpressungen, man denke nur an die Lust diverser Regierungen, ein Gesetz in Wortmonster zu verpacken und als „Gute-Kita-Gesetz“ zu beschließen.

Martin Schwietzke greift dieses Stilmittel auf und versieht neben der Haupterzählung auch den gesamten Erzählband damit. Durchgehendes Thema der neun Geschichten ist die Überlegung, dass die besten Erzähl-Champignons auf dem lockeren Nährsubstrat der bisherigen Literaturgeschichte wachsen. Eine gute Geschichte fußt meist auf dem Mist einer anderen guten Geschichte und ist upgedatet, aktualisiert und für den modischen Gendergebrauch umgemodelt.

vera zwerger bonell, schattenwärtsDie meisten Pflanzen und Lebewesen drängen, wenn möglich, ins Helle und an die Sonne. Bei den Menschen freilich führt dieses Streben oft stracks ins Dunkel, und manches Schicksal scheint eine Bewegung „schattenwärts“ zu sein.

Vera Zwerger Bonell bringt mit ihren Lebensskizzen drei Frauenschicksale ans Leselicht, ehe diese dann wohl wie alle Stoffe in den Büchern in den Schatten der Archive eintauchen werden. Die Geschichten sind der Autorin erzählt worden, es gibt kaum noch Zeitzeugen. Die Leser dürfen am Vorgang des Verlöschens von Schicksalen noch einmal teilnehmen, indem sie vielleicht ihr eigenes Leben hineinprojizieren in des Gedankenspiel mit der Vergänglichkeit.

ludwig roman fleischer, weana gschichtDas Buch von der Wiener Universal-Geschichte betritt man am besten, indem man wie durch einen akustischen Triumphbogen der Sprache mit zwei CDs hineinhüpft in den Text. „Weana Gschicht“ ist eine mündliche Angelegenheit, gleichsam öffentlich wie intim. Im Vorsatz sind die beiden güldenen CDs eingeklemmt. Der beigestellte Buchtext hat die Funktion, das Auge still zu halten, damit sich das Gehör konzentrieren kann. Wie eine Partitur zeigt der Text vor allem die Gliederung, die dem Jahrhundertwerk innewohnt.

Ludwig Roman Fleischer ist ein Sprachkünstler und Erwachsenenbildner. Mit seinem ironischen Duktus stellt er fürs erste klar, dass man ruhig seiner Stimme lauschen kann, es wird keine spannendere in der nächsten Zeit auftreten. Und die voluminöse Prägnanz gibt dem Vortrag jene Glaubwürdigkeit, die es braucht, um die volle Wucht des Themas „Geschichte“ auszuhalten.

wolfgang hermann, insel im SommerWenn etwas gebrochen ist, muss die Literatur wie ein Stützverband um die kaputten Stellen gelegt werden. Dabei ist viel Heilungsglaube vonnöten, sonst wirkt es nicht.

Wolfgang Hermann erzählt in der luziden Form einer Sommergeschichte vom allmählichen Verschwinden der Düsternis, wenn die Trauer sich verflüchtigt. Gleich zu Beginn legt sich Schockstarre über den Icherzähler, er hat in seiner Wiener Wohnung seinen Sohn tot im Kinderzimmer gefunden. Wann das genau gewesen ist, spielt keine Rolle, seither nämlich ist alles anders. „Wenn es geschehen ist, kann man sich das Leben vorher nicht mehr vorstellen.“ (41)

egyd gstättner, ich bin kaiserPatriotisches Selbstbewusstsein kann manchmal in einen Cäsarenkult übergehen, wenn das Land mitspielt und den darin geäußerten Wahnvorstellungen ein Revier gibt. Das bayrische „Mia san mia“ ist genauso patriotisch-pfiffig, wie das berüchtigte „Ik bin ein Berliner“. Da ist die Weltformel eines Österreichers geradezu romantisch: Ich bin Kaiser.

Egyd Gstättner nennt seinen jüngsten Erzählband über österreichischen Wahnsinn schlicht: Ich bin Kaiser. Dabei lässt er offen, ob nicht schelmisch der Kärntner Landeshauptmann gemeint sein könnte. Denn die Glaubwürdigkeit für seine Geschichten leitet er von der Überlegung ab, dass die Storys automatisch „tolldreist“ werden, wenn man sie so erzählt, wie die offizielle Geschichtsschreibung täglich als Fernsehprogramm des Staatsfunks auftritt.