Sylvia Dürr, Der Buchesser
Biographien verlaufen selten geradlinig, an ihren krummen Windungen lagern sich meist unverwechselbare Begebenheiten ab. Die daraus wachsenden Shortstorys dienen in der Literatur als unverwechselbare Marker eines Lebens, ähnlich wie es für die Forensik die Fingerabdrücke sind.
Sylvia Dürr überschreibt die Titelgeschichte der dreißig Shortstorys mit „Der Buchesser“ (9). Darin nimmt ein Bibliothekar das Lesen so innig und wichtig, dass er das Gelesene gleich zu verdauen anfängt. Er frisst die Bücher nicht nur im übertragenen Sinn, sondern absorbiert sie und macht die Bücherzellen zu Körperzellen. Vor allem während der Pubertät kommt es erstmals zu bibliothekarischen Fressattacken.
In beinahe geheim überlieferten Lebenserfahrungen ist oft die Rede davon, dass die fettesten Gräser am Rande eines Feldes anzutreffen sind. Und auch im weiten Feld der Kultur gilt die Erfahrung, dass sich die essentiellen Dinge oft am Rand abspielen.
Was arbeitest du? - Ich arbeite jedes Jahr für Weihnachten. Gemessen an diesem häufig geäußerten Kerndialog über Weihnachten arbeiten so gut wie alle Berufsgruppen an diesem „unbeweglichen Fest“, das als fixe Höhenkote für die Vermessung des Jahres gilt.
Die beiden wichtigsten literarischen Genres in Österreich sind Amnesie und Anamnese. Im einen Fall wird alles ausgeblendet, was das Wohlbefinden stört, im andern Fall alles geadelt, was zu einer Krankheit führt. So sind im öffentlichen Bereich die Krankengeschichten stärker verbreitet als andernorts die Kriminalgeschichten.
In der Nacht sind alle Katzen grau, und auch ihre Falten sieht man nicht. Ilse Krüger ist eine Meisterin der Ironie, wenn sie plumpe Sprichwörter, verrutschte Selfies, und falsche Binsenweisheiten durch die Lebensrealität zurechtrückt. Ihre Heldinnen kämpfen mit Vorurteilen und falschen Prophezeiungen, die über sie im Umlauf sind. Oft sind natürlich die Männer der Grund für den Dissens zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Aber bei genauerem Hinhören stellt sich bei Männern und Frauen eine ähnliche Unwucht heraus, die ihre Bilder zum Trudeln bringen.
Erbsenzählen und die Prinzessin auf der Erbse – der Erbsenjongleur ist als Märchenerzähler bestens eingekleidet mit Stoff.
In der Literatur werden Geschichten manchmal so heiß, dass man sie nur erzählen kann, wenn man gleichzeitig die Kühlelemente beschreibt, die zu ihrem Schutz installiert worden sind. „Knisternde Schädel“ sind zwanzig kleine Geschichten, die unter Überdruck in der Psychiatrie entstanden sind. Das Knistern im Kopfinnern diverser Helden deutet darauf hin, dass darin andere atmosphärische Drücke herrschen als in der sogenannten normalen Welt.
Suche den Kern der Hülle! – In der Literatur gibt es ständig neue Rätsel zu lösen, deren Lösungen später wieder zum Aufbau neuer Rätsel genutzt werden können. Reinhard Wegerth nimmt die „besten Wunder“ aus den Gründungsmythen von Islam und Christentum unter seine literarischen Fittiche, indem er sie ohne Vorurteile behutsam aus dem religiösen Kontext schält und als Präparate der Fiktion unter das Lektüre-Mikroskop legt.
Literatur ist jene dünne Haut, die sich schützend zwischen Ordnung und Unordnung stellt. Ohne sie gäbe es weder das eine noch das andere, folglich nichts. Die Literatur erschafft somit die Welt, wie wir sie uns vorstellen.
Die sensiblen Kunstformen Gedicht und Kurzgeschichten lassen sich in ihrer Halbwertszeit des Verfalls hinauszögern, wenn das Gedicht prosaische Züge trägt und die Kurzgeschichte psychologisch-poetische Tiefen aufsucht.