Jagoda Marinic, Russische Bücher

Buch-Cover

Oft sind in Büchern die gelesenen Vorstellungen größer als die Welten, die in ihnen dargestellt werden.

In Jagoda Marinics Erzählband kommt beispielsweise Hannah als Erzählerin in der Titelgeschichte nur ungenau mit der Größenvorstellung zurecht. Als sie im mittlerweile verkleinerten Ex-Jugoslawien auf einem Bahnhof steht, hat sie immer noch die großen Bilder von Russischen Büchern im Kopf. ?Die einzigen Weiten, die wir uns vorstellen können, verdanken wir russischen Büchern.?

Hannah und ihr Bruder Jonas sind in einer zu kleinen Welt aufgewachsen, jetzt ist fraglich, ob sie es in der großen, wirklichen aushalten werden. Eines Tages kommt die Mutter und sagt, dass der Vater nie mehr kommen wird, er ist auf einer Bohrinsel verunglückt. Alles, was bleibt, sind exotische Wörter, die Länder sein könnten, in denen Vater einmal war. Und überhaupt, wie kann man als Tscheche Vater sein und den Kindern solche Namen geben, meint der Großvater, die Mutter schweigt sich beharrlich aus.

?Es hätte noch vieles gesagt und gefragt werden müssen, doch keiner von uns sprach mehr. Seit jenem Abend ist mir klar, daß Erklärungen nie nachträglich gegeben werden können. Schmerzen ändern sich, und man kann den Zugang zur Wunde nicht finden, wenn man es nicht sofort tut.? (112)

Von diesem Zugang zur Wunde handeln auch die beiden anderen Erzählungen dieses Bandes.

In ?Der Andere? wirft eine Frau noch einmal ihre Vorstellungen von der Ehe über Bord, um dem Anderen vielleicht doch noch nahe zu kommen. Vergebens. Der Liebhaber bringt keine Erlösung, so sehr er sich auch verzehrend gibt. ?Frei. Mit einem Schlag. Der Moment, in dem ich begriff, daß ich verlassen war, war zugleich der Moment, da ich begriff, daß ich nicht mehr verlassen werden konnte?, zieht die Frau ein recht kühles Resümee. (48)

?Lara? schließlich ist Eine Erzählung über die Distanz in der Nähe. Lara verbringt immer die erste Nacht in der neuen Wohnung, wenn die Erzählerin wieder einmal umgezogen ist. Aber die Stille zwischen den beiden ist unerträglich. Einmal erzählt Lara von einem Mann, der sie begehrt hat aber noch mitten im Kuss abgeschwenkt hat, weil er die Stille in der Seele suchte, nicht die Liebe. Als Lara nach dem Suizid in der Intensivstation erkaltet, beugt sich die Erzählerin noch einmal an ihr Gesicht, und die Erzählung verlöscht.

Die drei Erzählungen sind aufwühlend wegen ihrer scheinbaren Gewöhnlichkeit. Die Figuren erinnern sich nämlich nicht an etwas, sondern erinnern aktiv, wie man etwa im Englischen das Wort ?remember? verwendet. So kann das Vergangene zwar reaktiviert, aber nicht reanimiert werden. Das ermöglicht einen seltsam kalten Blick auf die Hitze der Seele.

Jagoda Marinic, Russische Bücher. Erzählungen.
Frankfurt/M: Suhrkamp 2005. 130 Seiten. EUR 16,90. ISBN 3-518-41696-0.

 

Helmuth Schönauer, 01-08-2005

Bibliographie

AutorIn

Jagoda Marinic

Buchtitel

Russische Bücher

Erscheinungsort

Frankfurt

Erscheinungsjahr

2005

Verlag

Suhrkamp

Seitenzahl

130

Preis in EUR

EUR 16,90

ISBN

3-518-41696-0

Kurzbiographie AutorIn

Jagoda Marinic, geb. 1977, lebt in Waiblingen.