Wolfgang Matz, Gewalt des Gewordenen

Buch-CoverEinem gewaltigen Schreibvulkan kann man oft nur mit einem simplen Spickzettel begegnen. Adalbert Stifters Werk gleicht jenem Anton Bruckners und erklingt als eine scheinbar immer gleiche Symphonie, deren Abspiellupe sich jedoch stets zitterfrei durch die Rillen der Jahre tastet bis zum Finale aller großen Texte.

Wolfgang Matz ist für 2005 nicht nur Herausgeber der Stifterschen Erzählungen in der Gestalt der Erstdrucke, er ist einfach auch Fan und cooler Leser. Sein Spickzettel zum Gesamtwerk weist folgende zehn Schlüsselbegriffe aus:

#1 Dingwelt
Die Figuren sammeln und pflegen Dinge scheinbar wahllos, dabei könnte jedes Ding auch anders sein.

#2 Naturverfallenheit
In der großen Naturgeschichte ist der Mensch nur ein Einschiebsel, und wer weiß es, welch ein kleines.

#3 Nichtsein
Harmonie um welchen Preis! Alles was im Menschenleben Konflikte und Widerspruch schafft, ist im Nachsommer verbannt, nichts bleibt, was Störung bringen könnte.

#4 Ordnung
Alles in Stifters Werk drängt zur Ordnung, zur Konstruktion, zur Statik, und alles drängt zur Kleinheit: In der Idylle sucht der Mensch sich klein zu machen gegenüber dem Triumph des Todes. Kleinheit und Bewegungslosigkeit sind das Ende der Geschichte.

#5 Tradition
Das Kunstwerk wird zur Devotionalie und das Religiöse zum erbaulichen Bestandteil der kleinen Welt. Der Begriff der Tradition verdeckt, dass der Sinn des Beschworenen längst verlorenging.

#6 Schuld
Der Hochwald mit seinen überquellenden empfindsamen Metaphern, seiner tränenvollen Rührung, macht deutlich, wie sehr Stifters Begriff der Unschuld mit seiner biedermeierlichen Idylle verbunden ist. In ihrer Beschränktheit und Provinzialität negiert sie die Schuld schon durch ihre Kleinheit, denn alle wahrhaft tragische Schuld hat Größe.

#7 Riß
Durch das sanfte Gesetz geht ein Riss, denn es wird letztlich weder normativ noch deskriptiv ernst genommen. Stifter schwankt wieder einmal vor der Konsequenz seiner eigenen Regeln.

#8 Schweigen
Die Menschen wissen um das, was sie nicht aussprechen, und sie wissen, dass der andere es weiß. Im Moment des Beschweigens allseits gewusster Dinge findet die Solidarität der Menschen untereinander ihren letzten Ausdruck.

#9 Reue
Stifter ist der Dichter der rückwärtsgewandten Utopie. Die Reue um ein vertanes Leben zerfrisst des Menschen Herz. ?Es war alles alles zu spät, und was versäumt war, war nicht nachzuholen.?

#10 Form
Die starren Gestalten von Sitte und Höflichkeit, von Ordnung und Distanz, von Tradition und Stilisierung treten an den Ort der sinnhaften Ausprägung menschlicher Gemeinschaft.

Wau, eigentlich räumt Wolfgang Matz dem Adalbert Stifter ziemlich das Gesims ab, aber Stifter erleidet keinen Schaden dadurch, selbst die aufgeklärtesten Leser finden im Filz des stifterschen Stillstands höchste Erbauung, weil die Spielregeln der Lektüre klar sind. Die Gewalt des Gewordenen ist ein idealer Spickzettel zum Stifterjahr. Durch Matzens Essay wird so richtig klar, wie verzopft und rückwärtsgewandt eine Landesregierung sein muss, wenn sie in der Ausrufung eines Stifterjahres ihren göttlichen Auftrag sieht. Armes Stifterschwein! kann man da nur mitleidsvoll ausrufen.

Wolfgang Matz, Gewalt des Gewordenen. Zum Werk Adalbert Stifters.
Graz: Droschl 2005. ( = Essay 53 ). 98 Seiten. EUR 12,-. ISBN 3-85420-691-7.

 

Helmuth Schönauer, 08-08-2005

Bibliographie

AutorIn

Wolfgang Matz

Buchtitel

Gewalt des Gewordenen

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2005

Verlag

Droschl

Seitenzahl

98

Preis in EUR

12,00

ISBN

3-85420-691-7

Kurzbiographie AutorIn

Wolfgang Matz, geb. 1955 in Berlin, ist Verlagslektor in München.