Sirka Elspaß, hungern beten heulen schwimmen

h.schoenauer - 12.11.2025

Sirka Elspaß, hungern beten heulen schwimmenWas sich wie die Grundrechenarten für eine aufgelöste Seele anhört, ist ein lyrisches Konzept, das sich wie ein Stützkorsett um das zerbrechliche Individuum legt. Sirka Elspaß verfasst Gedichte über existentielle Gefühle und emotionale Kämpfe, die sich als variantenreiche lyrische Grundrechenarten an den Begriffen „hungern beten heulen schwimmen“ ablagern.

Als Einstimmung sind diese vier Aktionen monumental dargestellt, ohne Angst vor großen Worten und wuchtigem Habitus. Unter hungern heißt es: „Natürlich habe ich wieder / angefangen zu beten / ich lüge nie habe / damit aufgehört schau mich an / ich kann lange knien“. Der Hunger setzt schließlich während des Betens ein, wahrscheinlich werden ähnliche lyrische Endorphine eingesetzt wie beim Schwimmen.

Das Eingangsgedicht zeigt bereits die Verschränkung auf, die zwischen den einzelnen Kampf- und Therapiemaßnahmen herrscht, wenn sich das lyrische Ich aus einem Zustand höchster Anspannung und existentieller Gefährdung befreien will.

Beim anschließenden Bet-Gedicht fließen allerhand Tränen, sodass in jeglicher Form ein Davonschwimmen der Gefühle angedacht werden muss.

Heulen kann aus heiterem Himmel einsetzen, etwa wenn die Maus neben der Tastatur sich verselbständigt und das Rechtschreibprogramm sprengt.

Und Schwimmen schließlich ist als Trockentraining in Verwendung, Arm- und Beinbewegungen begleiten gefährliche Vorgänge im psychischen Outdoor-Bereich. Überall kann es gefährlich sein, was zur lapidaren Erkenntnis führt: Es gibt viele Orte die haben viele Rettungsschwimmer / es gibt Orte da gibt es noch keine. (12)

Wie im Titel und im Vorspann prophezeit, folgen im Gedicht-Kern die Texte den vier Oberbegriffen der Befriedung des Gemüts wie vier Himmelsrichtungen.

Die einzelnen Gedichte sind in Kleinschreibung ausgeführt, wie wenn jemand schnelle Botschaften in ein Display hämmern muss und keine Zeit hat, auf Großbuchstaben zu achten. Jäh sind im Text Halbzeilen in fetter Schrift markiert, als müsse man sich diese Fügungen für eine Prüfung merken. Dabei handelt es sich um austauschbare Riffs, die sich in jedes andere Gedicht einpflanzen lassen.

„Meinst du mich wenn du sprichst / von der Geburt bis zum Umfallen / wir haben vieles falsch gemacht / ich schreibe dir eine Kurznachricht / bevor ich verbittere / ich kenne den Winter beim Vornamen / große Hoffnung für Olympia“. ‒ Diese fetten Fügungen sind als zerbrechliche Floskeln in die Glaswolle des jeweiligen Gedichts eingewickelt. Sie lassen sich einzeln herausheben, und untereinander gelesen ergeben sie ein tragfähiges Gerüst für weiteres Material, bei dem noch nicht geklärt ist, für welche Tätigkeit es eingesetzt wird.

Denn längst ist aus hungern, beten, heulen, schwimmen ein einzigartiges Ballett der Gefühlsausbrüche geworden, die einzelnen Bewegungen sind synchronisiert und lassen das lyrische Ich durch erkenntnisreiche Loops in die Endphase gleiten, wo in einem imposanten Schlussbild das Individuum aus dem Zoo kommt, worin es einen Flash zurück ins Jahr 1963 auszuhalten hat, „weit entfernt von jeglicher Geburt“ (71). Beim Hinausgehen aus dem Zoo (und somit aus dem Gedichtband) taucht die Überlegung auf, ob sich die vier Kerngefühle auch auf Tiere anwenden ließen.

Im Abspann gibt es zuerst eine Danksagung, die im Stil von Glückwünschen zu diversen Kindergeburtstagen gehalten ist. Angesprochen sind Freunde wie Kuscheltiere, die jemand verbal auf den Arm genommen hat. Konterkariert wird diese übertrieben individuelle Darstellung mit einer Liste, in der einzelne Gedichtzeilen scheinbar wahllos mit Quellenangaben unterlegt sind. ‒ Dankes-Elegie und Liste umrahmen beim Hinausgehen aus dem Band das Gelesene und geben ihm den letzten Schliff.

Natürlich wird auch der für Lyrik zwingend vorgeschriebene Vogel ausgiebig gewürdigt, hier in Gestalt eines Spatzes.

„erlösung beeil dich die spatzen draußen / quatschen mein kopf ist ein nest / aus schlamm mir wie aus dem gesicht geschnitten / ich weiß mittlerweile sollte ich wissen / wann ich es besser weiß / gestern zum beispiel und gerade jetzt auch / kein gott schaut mir auf die finger / eine sehnsucht schaut mir aus dem bauch“ (25)

Sirka Elspaß zerlegt den großen Gestus von Gefühlslyrik mit der Abrissbirne der Ironie.

Sirka Elspaß, hungern beten heulen schwimmen. Gedichte
Berlin: Suhrkamp Verlag 2025, 80 Seiten, 20,60 €, ISBN 978-3-518-43253-2

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Sirka Elspaß, hungern beten heulen schwimmen
Wikipedia: Sirka Elspaß

 

Helmuth Schönauer, 14-09-2025

Bibliographie
Autor/Autorin:
Sirka Elspaß
Buchtitel:
hungern beten heulen schwimmen
Erscheinungsort:
Berlin
Erscheinungsjahr:
2025
Verlag:
Suhrkamp Verlag
Seitenzahl:
80
Preis in EUR:
20,60
ISBN:
978-3-518-43253-2
Kurzbiographie Autor/Autorin:
Sirka Elspaß, geb.1995 in Oberhausen, lebt in Wien.
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