ludwig roman fleischer, atlantisIn der vollkommen geglückten Geschichtsschreibung fallen individuelle Schicksale gestochen scharf aus der Teigmasse der allgemeinen Geschichte, der Vorgang des Erzählens gleicht dabei dem Keksausstechen eines neugierigen Kindes aus dem ausgewalzten Teig.

Ludwig Roman Fleischer beschreibt schon seit Jahrzehnten nichts anderes als die jeweilige Gegenwart, dabei sind seine Romane oft blumiger und ermunternder als die dargestellte Gesellschaftsmasse. Im aktuellen Roman „Atlantis“ nähern sich angehende Pensionisten auf einem Kreuzfahrtschiff einem Felsen, an dem sie glücklicherweise zerschellen dürfen.

johannes voskuil, Das Büro 5Ein gigantisches Romanwerk im Ausmaß von über fünftausend Seiten fordert vor allem den Autor, der alles unternehmen muss, um nicht während des Romans zu versterben. Und Unsterblichkeit ist auch vom Übersetzer verlangt, dass er nicht aufgibt. Ein Gigawerk fordert Verlagswesen und Buchhändler heraus und schließlich die Leserschaft. Ein Wahnsinnswerk bringt überhaupt alle an ihre Grenzen.

Johannes J. Voskuil erzählt im „Büro“ die Geschichte der Niederlande zwischen 1957 und den beginnenden 1990er Jahren. Archiv, Forschungsstätte und Weltraumbahnhof der Fiktionen ist dabei ein Volkskundeinstitut, das alles von Sprache, über Gartenzwerge bis hin zu Musik und Lagerfeuern erforscht. Ziel ist es, von der Peripherie her und vom flachen Land aus in die Zentren großer Gedankenentwürfe vorzudringen.

daniel suckert, eigentlichEine der größten Errungenschaften der Erzählkultur ist die sogenannte romantische Ironie. Dabei tritt eine Figur aus ihrer Rolle heraus wie aus einem Kostüm und reflektiert über Fug und Unfug des eben Gesagten. Paradebeispiel dafür ist der gestiefelte Kater, der ein Stück gleichen Namens während der Aufführung kommentiert.

Eine ähnliche Ironie, wenn auch auf Basis des Alltagsgrusels, wendet Daniel Suckert in seinem Roman „Eigentlich“ an, worin es vordergründig um die Substanz des Alltags-Trashs geht.

ernest van der kwast, die eismacherAuf eine unsichtbar lustvolle Art ist jeden Sommer Europa mit einer fruchtigen Eisschicht überzogen. Wie selbstverständlich wird überall Eis ausgerufen und erotisch verschleckt, dabei kommt das Spitzeneis aus einer Spezialisten-Familie, die vom Cadore aus den Dolomiten heraus die Welt erobert hat.

Ernest van der Kwast lässt über mehrere Generationen hinweg eine Eismacher Familie auftreten, er veredelt ihr Tun aber, indem die Geschichte von einem Eis-Aussteiger erzählt wird. Guiseppe soll wie alle anderen der Sippschaft in die Eismacherei einsteigen, aber er wird Verleger und kreiert Lyrik wie eine Eisspezialität.

gerald pusch, schwarzer schneeWegen der schwarzen Milch des Paul Celan durfte das Wort „schwarz“ in der Literatur eine Zeitlang nur im Zusammenhang mit dem Holocaust verwendet werden. Ein paar Generationen später darf man jetzt wieder schwarzer Schnee sagen, wenn der Schnee schwarz ist.

Gerald Pusch erzählt von einem Mathematikstudenten in Linz, der während des Wintersemesters in ein schwarzes Loch fällt und nicht mehr herauskommt. Dabei beginnt der Roman wie eine österreichische Idylle, der Ich-Erzähler kommt nach ein paar Schaltvorgängen im Hirn aus dem nächtlichen Traummodus heraus und begibt sich zur Couch, wo sich eine nette Sitzmulde gebildet hat. Heute ist ein guter Tag, denn der Lieblingssender wird bis zu zwölf Stunden am Stück Schirennen übertragen.

wolfgang pollanz, hasta la vista, babyEs gibt so messerscharfe Jahre, die eine Biographie in vorher und nachher trennen. Für die Jahrgänge der 1950er Jahre gibt es um 1970 herum diesen Einschnitt, wo der Hippie-Boom vorbei und der Kampf gegen den Vietnamkrieg aufgenommen ist. Als markanter Roman über diese Zeit gilt Peter Handkes „Der kurze Brief zum langen Abschied“. Darin fährt der Held einsam und abseits aller Weltgeschehnisse durch Amerika, um am Schluss seinem Bruder beim Holzfällen zuzuschauen.

Wolfgang Pollanz, Jahrgang 1954, schickt seinen Helden Arno Weissenegger in ähnlicher Mission durch Kalifornien. Dieser ist Bodybuilder und Steirer und versucht eine Weltkarriere, für die durchaus Schwarzenegger Vorbild ist, obwohl im Vorspann ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass es mit niemandem eine Ähnlichkeit gibt, höchstens in einem Paralleluniversum.

Oleg jurjew, unbekannte briefeNirgendwo ist der Eisberg der Wahrnehmung so groß wie in der russischen Literatur. Wir sehen ab und zu die Spitzen von Dostojewski und Tolstoi aus einem Regal aufragen, aber darunter verbirgt sich ein literarischer Kontinent, der flächenmäßig mindestens so groß ist wie ganz Russland. Manche behaupten, an wehmütigen Tagen bestünde Russland zur Gänze aus Literatur.

Oleg Jurjew stößt ironisch hinein in diese Masse ungehobener Schätze, indem er vorgibt, drei unbekannte Briefkonvolute seien ihm zugespielt worden. Diese drei Briefachsen tauchen tief hinunter in die Literaturgeschichte, die mit diesen fiktionalen Briefen neu gedeutet oder überhaupt erst zur Existenz gebracht wird.

lisa spalt, die zwei henriettasFrei komponierte Romane haben für den Leser den Vorteil, dass sie auf unterschiedliche Weise gelesen werden können und der Leser mit seiner Sichtweise immer recht hat. Diese offene Erzählform gibt letztlich nur ein paar Laserstrahlen vor, an denen bei jedem Lesevorgang die Episoden neu ausgerichtet werden müssen.

Lisa Spalt setzt mit den zwei Henriettas ihren Heldinnen ein Denkmal, das auf jeder Seite neu zusammengesetzt wird. Im Hintergrund agiert eine Erzählerin, Layouterin oder Forscherin, die aus einem Berg von Fotomaterial etwas Brauchbares gestalten will.

rosemarie poiarkov, aussichten sind überschätztAuf den alten Postkarten und mittlerweile im Netz gibt es diese Kurznachrichten, wo ein komplizierter Zustand auf einen Kurzsatz zusammengestutzt wird. „Aussichten sind überschätzt!“

Rosemarie Poiarkov überschreibt einen ganzen Roman mit dieser Kurznachricht, dabei geht es um ein komplexes Gebilde an Beziehungen, Freundschaften, Alltagsstrategien und um den fast verfassungsmäßigen Wunsch, eines Tages vielleicht glücklich zu sein.

walter kohl, out demons outSo um 1980 herum haben die damals sechzigjährigen Autoren in ihren aktuellen Romanen wie verrückt ihren Vater gesucht. Momentan versuchen die jetzt sechzigjährigen Kunden des Beats und der psychodelischen Musik mit ihren Bands von damals ins Reine zu kommen. Wahrscheinlich ist das nur eine andere Art von Vatersuche.

Walter Kohl hat seinen ursprünglichen Plan, als saugender Fan von damals eine Biographie über die Edgar Broughton Band zu verfassen, sublimiert, indem er einen mehrschichtigen Roman über Träume, Altwerden, Dorfleben und das Nichts in England und Österreich geschrieben hat.