Friederike Gösweiner, Regenbogenweiß
Seit allenthalben sogenannte Trauerratgeber in Schrift und Therapie den Markt überschwemmen, muss man sich in der Literatur einen Ruck geben, um sich auf einen Roman einzulassen, in dem es um die Veränderung des Hinterbliebenen-Lebens durch den Tod des Vorausgängers geht.
Friederike Gösweiner verknüpft die Sinnsuche ihrer Helden anhand jenes Knotens, der durch einen plötzlichen Herztod des Vaters auftritt. Die Kunst des Erzählens besteht bekanntlich darin, die Leser bei Neugierde zu halten, und weniger, eine These abzuarbeiten. Ein erster Blick auf das Figurenset von „Regenbogenweiß“ bremst freilich ein wenig die Lust, sich ungeniert auf den Psycho-Roman einzulassen.
Das wahre Schreiben beginnt für jene Schriftsteller, die es ernst meinen, erst im Alter. Dort entsteht nämlich ein unverwechselbarer Ton und es müssen keine Geschichten mehr zugekauft oder erfunden werden, weil diese der Schreibvorgang selbst spendet.
Wenn jedem Menschen eine eigene Welt innewohnt, müsste man mit diesen Welten kommunizieren können, indem man sich ihre Weltachsen unter die Lupe nimmt.
Rare Bücher jenseits des Massenauftriebs sind oft in eine individuelle Untergrund-Geschichte eingeschlagen oder tragen diese eingenäht im Umschlag herum. Diese Bücher rutschen im Regal auch gerne nach hinten, während vorne an der sichtbaren Kante die Alltagsware den Zugriff verstellt.
„In zehn Kapiteln stellt das Heft repräsentative Zeugnisse zur Geschichte und Gegenwart der Judenfeindlichkeit vor. Dabei werden die wichtigsten Spielarten des Antisemitismus berücksichtigt.“ (S. 1)
„Der Westen erfüllt alle Bedingungen, um als perfekter Täter zu gelten. Jenseits des Atlantiks hat er auf Basis des Genozids an der Urbevölkerung, der Versklavung von Afrikanern und der Segregation von Schwarzen eine neue Nation gegründet. Und auf Europa lasten vier Jahrhunderte Kolonialismus, Imperialismus und Sklaverei – obwohl es auch europäische Nationen waren, die sich als erste für deren Abolition einsetzten. Was die westliche Welt zum perfekten Sündenbock macht, ist vor allem, dass sie ihre Verbrechen nicht leugnet …“ (S. 12)
Es geht nichts über die Ironie, die sich über akademische Scheindiskussionen, pandemische Langzeitfolgen, Reproduktionsgelüste von Lebensmüden und Sollbruchstellen von ehemaligen Traumberufen legt.
Das Wohnzimmer der Literatur ist die Kiste, da fühlt sie sich wohl und beschützt und wartet mit dem Kistenbesitzer tapfer auf das Ende der Welt. Peter Giacomuzzi ist von Kindheit an von dieser Literatur in der Kiste inspiriert. Bei ihm hat diese Verzauberung die Ausmaße einer Schuhschachtel und steht im Regal seiner Tante, die ihn durchs Studium füttert. In der Schachtel sind Briefe eines gewissen Toni, der als Bild neben dem Fernseher steht.
„Aufgrund des hochgradig organisierten Strebens nach technologische Innovation und der dadurch begünstigten Kultur findet der Wandel heute schneller statt, ist umfassender und willkommener als je zuvor – was bedeutet, dass Institutionen, Wertungen und Erwartungen gemeinsam mit der Technologie nurmehr eine begrenzte Haltbarkeit zukommt. Wir erleben den Triumph der reinen Gegenwart und ihres Komplizen: des Vergessens bzw. der kollektiven Amnesie.“ (S. 57)
Lesen hat im gesellschaftlichen Diskurs einen ähnlich positiv besetzten Stellenwert wie Spazierengehen. Dennoch muss dies ständig beworben werden, weil es offensichtlich nicht selbstverständlich ist.