Wirtschaft | Soziales

Gerhard Henschel, Soko Fußballfieber

h.schoenauer - 02.07.2021

gerhard henschel, fussballfieberEin Literatur-Genre ist für den Leser nur zweimal interessant: einmal, wenn es erfunden wird, und ein andermal, wenn es beendet wird. Dazwischen liegt Massenware, die der kluge Leser beiseite lässt, um das Leben nicht mit finsteren Wetterlagen im Kopf zu belasten.

Gerhard Henschel hat sich ein verrückt gutes Konzept für seine Romane zurechtgelegt. Er beendet einfach die jeweiligen Genres, indem er sie ad absurdum und somit zur Vollendung führt. Nach ihm gibt es keinen Arbeiter-, Liebes- oder Bildungsroman mehr, er sprengt sie alle mit ihrem eigenen Erzählstoff. Jeder Genre-Roman implodiert, wenn man ihm die Vorlage nimmt. Mit der Fließbandtheorie könnte man sagen, die Fließbandarbeit ist zu Ende, wenn das Fließband abgebaut ist.

Elke Steiner, Über das Licht gedreht

h.schoenauer - 30.06.2021

elke steiner, über das licht gedrehtDie schaurige Geschichte vom Erlkönig, der mit seinem toten Kind durch den eigenen Wahnsinn reitet, lässt sich auch psychologisch deuten. Da identifiziert sich ein Held so heftig mit der Rolle, dass er die Geschichte mit toten Bruchstücken zu Ende bringt, auch wenn die Story schon tot geritten ist.

Elke Steiner zeigt in ihrem Roman „Über das Licht gedreht“ eine Heldin, die mit dem Verlust ihrer frühgeborenen Tochter nicht zurecht kommt und durchdreht. Gleich zu Beginn steigt Hanna spät in der Nacht in einem Hotel ab, sie ist von der Anfahrt verwirrt. Nach dem Einchecken merkt sie, dass sie ihre Tochter Emmelyn (mit Ypsilon) im Auto vergessen hat. Das Personal wundert sich noch, wie man so ein Kind vergessen kann, aber die Müdigkeit scheint auch verrücktes Verhalten erklärbar zu machen.

Judith Sevinç Basad, Schäm dich!

andreas.markt-huter - 28.06.2021

judith sevenc basad, schäm dich„Den Aktivisten geht es aber nicht um pragmatische Lösungen. Ihnen geht es um einen Kulturkampf: Die Welt soll in »Gut« und »Böse«, in Täter und Opfer, in Privilegierte und Nicht-Privilegierte, in Weiße und Schwarze, Mann und Frau, Deutsche und Migranten, Heterosexuelle und Queers eingeteilt werden.“ (S. 49)

„Social-Justice-Warriors“, die sich einer radikalen Form der „political correctness“ verschrieben haben, gewinnen zunehmend Einfluss auf das öffentliche und politische Leben, besonders augenfällig an den neuen Kriterien zur Kandidatur für den besten oscar-prämierten Film oder daran, missliebige Meinungen mit dem Prädikat „rassistisch“ oder „faschistisch“ zu abzuwerten. Woher dieses Denken kommt und welche Ziele damit verfolgt werden, steht im Mittelpunkt des Sachbuchs „Schäm dich!“

Max Wolf, Glücksreaktor

h.schoenauer - 25.06.2021

max wolf, glücksreaktorObwohl wir alle wissen, dass es ein angelesener Rausch nie mit einem echten aufnehmen kann, lassen wir Lese-Profis uns immer wieder auf einen virtuellen Rausch ein. Man wird jung dabei, hat einen ordentlichen Fetzen und kann daraus ohne Kater oder sonstige Schäden erwachen. Ein Second-Hand-Rausch ist gerade für Senioren ideal.

Max Wolf wirft seinen „Glücksreaktor“ freilich am anderen Ende einer Seniorenbiographie an. Der siebzehnjährige Fred erwacht eines Tages in Faitach, einem Vorort von Erlangen, auf einer Ameisenstraße. Er ist Schüler an einem Oberstufengymnasium und kriegt am ehesten noch etwas von Physik mit. Der dritte Hauptsatz der Thermodynamik hat schon was für sich, weil er schnurstracks in die Entropie führt.

Anna Stockhammer, Jan

h.schoenauer - 23.06.2021

anna stockhammer, janWenn etwas schiefgeht, lautet die alte Frage meist: Liegt es am System oder am Helden? Ein gutes System tut verlässlich alles, um niemanden in es hineinzulassen, aber ein Held im 21. Jahrhundert hat oft auch Ermüdungserscheinungen, so dass es zu keiner heldenhaften Karriere kommen kann.

Anna Stockhammer nimmt die Ur-Situation einer ganzen Generation zum Anlass, um den Praktikanten Jan Winter ordentlich auflaufen zu lassen. Der Ich-Erzähler Jan arbeitet bei einem Magazin als Praktikant. Irgendwie reiben sich Magazin und Held lustlos aneinander ab und gehen sich fallweise aus dem Weg. Da nimmt der Chefredakteur noch einmal väterlich das Heft in die Hand und geht auf Jan zu, um ihn für ein Interview zu animieren.

Heiner Flassbeck, u.a., Atlas der Weltwirtschaft.

andreas.markt-huter - 21.06.2021

heiner flassbeck, atlas der weltwirtschaft„Der Atlas der Weltwirtschaft liefert ein Gesamtbild, das starke Hinweise darauf enthält, was in der Weltwirtschaft schiefläuft und was die Staatengemeinschaft dagegen tun sollte.“ (S. 1)

Auf 129 Seiten werden die verschiedenen Aspekte der Weltwirtschaft im Vergleich zwischen den Kontinenten anhand zahlreicher Diagramme und Tabellen veranschaulicht und verständlich erläutert.

Dennis Cooper, Mein loser Faden

h.schoenauer - 18.06.2021

dennis cooper, mein loser fadenDie größte denkbare Kluft tut sich nicht zwischen diversen Kulturen auf, sondern zwischen der Welt der Jugendlichen und Erwachsenen. Das hat neben pädagogischen Konsequenzen auch zur Folge, dass es kaum Brücken in der Literatur gibt, diesen Gap zu überwinden. Denn die Autoren schreiben selten das, was Jugendliche betrifft, und die Jugendlichen haben keinen Bock auf die Entschleunigungsliteratur der Erwachsenen.

Dennis Cooper greift ein Thema auf, das sich nur vage von außen beschreiben lässt. Und es liegt die Vermutung nahe, dass auch die jugendlichen Heroen selbst nicht wissen, was in ihrem Innern los ist. „Mein loser Faden“ deutet auf die Konsistenz eines Helden hin, der nur vage einen Faden hat, an dem er sich entlang denkt. Und auch die Bedeutung „loser“ als Verlierer liegt auf der Hand.

Masha Gessen, Die Zukunft ist Geschichte

h.schoenauer - 09.06.2021

masha gessen, die zukunft ist geschichteNicht umsonst hat es in der Lesedidaktik lange das Diktum gegeben: Wenn du ein anspruchsvoller Leser sein willst, musst du dich an russischen Romanen schulen! Wer nämlich durch die Slalomstangen eines üppigen Personalstandes halbwegs durch den Roman hindurch finden will, braucht auf jeden Fall Geduld und Erinnerungsvermögen, damit er eine Figur auch dann nicht verliert, wenn sie bloß einmal kurz vorkommt.

„Die Zukunft ist Geschichte“ ist zwar ein wissenschaftlich gut unterlegtes Geschichtswerk, ist aber generell als Roman ausgelegt. So erklärt die Autorin umfangreich das Wesen der russischen Namen. Sie sind je nach Alter, sowie Grad der Intimität und öffentlichen Reputation einzusetzen. Ein interessanter Mensch bringt es im russischen Literatur- und Alltagsgebrauch auf gut ein Dutzend Varianten seines Namens.

Leopold Federmair, Tokyo Fragmente

h.schoenauer - 07.06.2021

leopold federmair, tokyo fragmenteTokyo Fragmente sind wahrscheinlich genauso schützenswerte Originale wie Lebensmittel, Weine oder Käse, die ihre Ursprungsbezeichnungen als Markenzeichen geschützt haben. Tokyo Fragmente könnte man in einer Schutzurkunde vielleicht als Notate bezeichnen, die ein Sprachforscher während seines Aufenthaltes im Großraum Tokyo niederlegt.

Leopold Federmair notiert in überschaubaren Erlebnis-Schleifen, im aktuellen Fall sind acht solcher Erfahrungsverdichtungen jeweils mit einem Foto als Kapitel ausgewiesen. Diese Einteilung ist aber völlig offen, denn die Gedankenschlieren werden niemals eingesperrt. Im Gegenteil, immer wieder treten Überlegungen zutage, wie man Tokyo anders erfahren könnte.

Michael E. Dyson u.a., Political Correctness - Ein Streitgespräch

andreas.markt-huter - 04.06.2021

michael dyson u.a., political_correctness„Politische Korrektheit geht von der Prämisse aus, dass Ungleichheiten, die lange Zeit als natürlich gegolten hatten, so wie Geschlechter- oder Rasseungleichheiten, dem Auge des Betrachters deshalb weitgehend entzogen waren, weil diese Ungleichheiten der Weltsicht und den Interessen von Weißen, Christen und Männern dienten. Diese Ungleichheiten haben tiefe Wurzeln in die Sprache geschlagen …“ (S. 19)

Das Streitgespräch zum Thema „Political Correctness“ fand 2018 im Rahme der Munk-Debatten statt, die sich in Kanada zu einem wichtigen politischen Ereignis der öffentlichen Diskussion entwickelt haben. Dabei werden vor einem Live-Publikum Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmer zur Debatte eingeladen, die auch in nationalen und internationalen Medien übertragen werden.