Wirtschaft | Soziales

Thomas Kaufmann, Erlöste und Verdammte

andreas.markt-huter - 06.03.2017

„Wittenberg, «am Rande der Zivilisation». Von diesem traditionslosen deutschen Universitätsstädtchen ausgehend wurde die Reformation binnen kürzester Zeit zu einem europäischen Ereignis. Dies war nicht zuletzt durch die politischen Strukturen und Konstellationen in Europa bedingt …“ (9)

Anlässlich des 500 Jahr-Jubiläums der Reformation erscheinen zahlreiche Bücher zur Reformationsgeschichte sowie Biographien Martin Luthers. Thomas Kaufmanns Geschichte der Reformation setzt die reformatorische Bewegung und das Handeln Luthers und der anderen Reformatoren bewusst in einen größeren europäischen und kulturgeschichtlichen Kontext. Ohne diesen Zusammen lassen sich die Wirkung und die Geschwindigkeit, mit der die Thesen und Forderungen Luthers in Deutschland und Europa Verbreitung finden konnten, nicht erklären.

Andrzej Stasiuk, Der Osten

h.schoenauer - 27.01.2017

Der Osten ist nicht nur eine Himmelsrichtung sondern auch ein Lebensgefühl, eine Farbe des Unterbewusstseins oder eine permanente Wetterlage.

Andrzej Stasiuk, der Fachmann für Peripherie, devastierte Ländereien und aufgelassene Soziotope, kümmert sich in seinem historisch-poetischen Roman um jenen vagen Osten, der durch Geschichten plötzlich erzähl- und begreifbar wird. Der Ich-Erzähler erarbeitet sich den Osten in drei „Stoßrichtungen“, wie das Wehrmachtswort für den Nazikrieg im Osten heißt.

Ingelore Ebberfeld, Der sexuelle Supergau

andreas.markt-huter - 16.01.2017

„Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass Sexuelles überall präsent ist, dass wir gelernt haben, es zu übersehen. Ironischerweise sei Pornographie durch die blanke Allgegenwart praktisch unsichtbar geworden, schreibt die Soziologin Gail Dines. Recht hat sie. Gleiches gilt allemal für das Sexuelle, das uns täglich rund um die Uhr begegnet.“ (8)

Wie stark sich das Sexuelle im letzten Jahrzehnt in der Erlebniswelt unseres Alltags ausbreiten konnte, macht Ingelore Ebbersfeld an zahlreichen Bereichen des öffentlichen Lebens anschaulich, sei es in der Fernseh-, Kino- oder Musikwelt, sei es auf der Theaterbühne oder auf Fotos. Aber auch die Vorstellungen vom eigenen Körper sowie von der Normalität sexueller Praktiken haben sich im Laufe der Jahre massiv geändert. All das hat massive gesellschaftliche Auswirkungen, was in einem veränderten Schamempfinden und einer Verrohung der Sprache zum Ausdruck kommt.

Norbert Gstrein, In der freien Welt

h.schoenauer - 11.01.2017

In den guten multiplen Romanen gibt es so viele Lesemöglichkeiten, dass zwei Leser im Gespräch darüber oft eine Zeitlang brauchen, um zu kapieren, dass sie den gleichen Roman gelesen haben.

Norbert Gstreins Roman „In der freien Welt“ ist multipel, weit, frei, und groß wie die ganze literarisch erfassbare Welt. Je nach Wahl des Lese-Eingangs lässt sich der Roman als Krimi, politische Bestandsaufnahme, Travelling-Fields, Freundschaftserzählung oder Aussalzung eines perversen Literaturbetriebes lesen.

Friederike Gösweiner, Traurige Freiheit

h.schoenauer - 09.01.2017

Das hat die Freiheit so an sich: Wenn man sich nach ihr sehnt, ist sie unendlich hell und freundlich, wenn sie da ist, wird sie manchmal dunkel und bissig.

Friederike Gösweiner konfrontiert in ihrem Roman die Heldin Hannah mit jener traurigen Freiheit, die sich oft einschleicht, wenn man das Leben mit Gewalt verändert. Hannah geht auf den dreißigsten Geburtstag zu, sie lebt mit Jakob in einer unaufgeregten Partnerschaft und segelt irgendwie geräuschlos durch den Alltag.

Harald Specht, Jesus? Tatsachen und Erfindungen

andreas.markt-huter - 04.01.2017

„Hat Jesus jemals gelebt? Oder ist er nur ein Phantom. »War Jesus doch nur eine Erfindung der urchristlichen Gemeinde?«, fragt Augstein. Eine erdichtete Figur, ausgesponnen von frühen Christen und Kirchenmännern? Kann man diese Frage heute noch klären? Gibt es von Jesus überhaupt noch greifbare Spuren in der Geschichte?“ (18)

Es gibt wohl wenige Figuren der Weltgeschichte, über die so viele Bücher geschrieben worden sind wie über Jesus von Nazareth, der als zentrale Person des Christentums bis in die Gegenwart die Faszination und den Glauben von Millionen von Menschen begründet. Ist die Historizität Jesu aber wirklich absolut geklärt und haben sich die Geschichten um Jesus tatsächlich ereignet? Diesen Fragen versucht das Sachbuch „Jesus? Tatsachen und Erfindungen“ auf mehr als 650 Seiten aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln nachzugehen.

David Cay Johnston, Die Akte Trump

andreas.markt-huter - 16.12.2016

„Als Donald Trump im Juni 2015 auf der Rolltreppe in das Atrium des Trump Tower herabschwebte, um bekannt zu geben, dass er bei den Präsidentschaftswahlen antreten würde, live übertragen von den nationalen Fernsehsendern, hielten fast alle Journalisten seine Kandidatur für ein reines Eitelkeitsprojekt. Ich nicht.“ (9)

Während sich früher nur Leser der Klatschspalten und Regenbogenpresse für den „Milliardär“ und „Bau-Tycoon“ Donald Trump interessierten, fragt sich nach seiner Wahl zum mächtigsten Präsidenten der Welt im November 2016 wohl die ganze Welt, welche Persönlichkeit sich hinter Donald Trump verbirgt und was die Welt von seiner Präsidentschaft zu erwarten hat. Der bekannte amerikanische investigative Journalist David Cay Johnston befasst sich schon seit Jahrzehnten mit dem frisch gebackenen US-Präsidenten und bietet in seinem Buch „Die Akte Trump“ tiefe Einsichten in das Wesen und die Vergangenheit von Donald Trump.

Kat Kaufmann, Superposition

h.schoenauer - 14.12.2016

Wer eine Superposition einnimmt, hat es sportlich, gesellschaftlich oder sexuell geschafft. Der Begriff zieht durchaus den Neid an und wird zum Selbstschutz der Helden deshalb oft ironisch verwendet. Jemand mit der Arschkarte in der Hand kann also durchaus verkünden, dass er eine Superposition habe.

Heldin dieses zeit-geistigen Romans von Kat Kaufmann ist die 26-jährige Jazz-Pianistin Izy, deren Wurzeln in Russland und in der Ukraine liegen, und die sich im dynamisch-wuseligen Berlin der Gegenwart einzunisten versucht. So sind denn auch Abklärung der Herkunft und das heimisch Werden in der Kunst die Grundvoraussetzungen, um sich in den gekrümmten Koordinaten Berlins zurechtzufinden. Die Hauptforderung heißt dann auch Migrationsvordergrund statt -hintergrund.

Georgi Gospodinov, 8 Minuten und 19 Sekunden

h.schoenauer - 12.12.2016

Ein guter Titel wird unumstößlich wahr, wenn er sich an physikalische Grundgesetze hält. 8 Minuten und 19 Sekunden braucht das Licht, um von der Sonne auf die Erde zu gelangen, wir sind also mit jedem Sonnenstrahl dieser Zeitangabe ausgesetzt.

Georgi Gospodinov kümmert sich in seinen knapp zwanzig Erzählungen um alles, was durch die Zeit zum Verschwinden gebracht wird oder sich so verändert, dass es nicht mehr erkannt wird. Bereits in der Titel-gebenden Eingangsgeschichte verschwindet die Sonne, was aber erst nach den berüchtigten acht Minuten neunzehn bemerkt wird. Der Erzähler erklärt dem Leser, dass die Sonne während des Lesens verschwinden könnte, denn die Geschichte dauert genau so lange, wie das Sonnenlicht bis zu uns braucht. Es ist also gar nicht gewiss, dass etwas, was am Beginn einer Erzählung noch wie selbstverständlich da ist, am Ende des Textes auch noch da ist. Vielmehr dient das Erzählen oft der Auflösung von Selbstverständlichem.

Hans Platzgumer, Am Rand

h.schoenauer - 28.11.2016

Die raffiniertesten Romane schlüpfen oft in eine gängige Verpackung und sprengen von innen her alles Konventionelle.

Hans Platzgumer schickt seinen Helden Gerold Ebner auf einen Berggipfel, damit er dort umgeben von jähen Abgründen sein Leben reflektieren kann. Üblicherweise geht man ja ins Gebirge, um das Tal-Leben hinter sich zu lassen, der Ich-Erzähler am Rand aber gibt sich nicht lange den Lichtverhältnissen und Schattierungen im Gebirge hin und beginnt zu schreiben. Er hat sich ein leeres Gipfelbuch mitgenommen, das er mit seinem Leben vollschreiben wird.