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Ursula Flacke, Das Mädchen aus dem Vinschgau

andreas.markt-huter - 09.11.2016

Hinter jedem gelungenen Buch steckt eine vollkommene Bibliothek. Manchmal bedanken sich Autorinnen und Autoren bei diesen Bibliotheken, andere setzen auf den Genie-Begriff und behaupten, sich alles selbst aus den Hirnwindungen gesogen zu haben.

Ursula Flacke setzt an das Ende des historischen Romans vom „Mädchen aus dem Vinschgau“ zwei Anmerkungen, einmal bedankt sie sich bei der Schlanderer Bibliothek, die ihr diesen regionalen Stoff erst zugänglich gemacht hat, andererseits betont sie das Fiktionale des Romans, worin Kernfiguren, Kernzeiten und  Kernhandlungen aus einer Unmenge von Möglichkeiten herausdestilliert sind. So spielt das „Mädchen aus dem Vinschgau“ komprimiert um das Jahr 1519.

Robert Misik, Was Linke denken

h.schoenauer - 01.11.2016

Zum freiwillig Lesen gehören immer ein Schuss Romantik und der Glaube daran, in ein halbwegs logisches und überschaubares Gebiet vordringen zu können. Viele Linke haben in den Sechziger Jahren anhand der bunten Suhrkamp-Bücher das Lesen gelernt und schwärmen heute noch davon, wie logisch, bunt und heimelig damals alles gewesen ist.

Robert Misik erzählt für Neueinsteiger, was Linke so lesen, wie linke Protagonisten getickt haben und welche Gedankengänge wann und warum in den Vordergrund getreten sind. Gleich zu Beginn räumt er mit dem Mythos auf, wonach in der linken Szene besonders viel gelesen und gedacht würde, das Danken verteilt sich dünn gesät auf alle Schichten und Gedankenträger.

Manfred Chobot (Hg.): Die Briefe der Hausmeisterin Leopoldine Kolecek

h.schoenauer - 20.10.2016

Damit so etwas Garstiges wie der Kapitalismus funktioniert, muss er flächendeckend angewendet werden und bis in die letzte Ritze des Hauses hineinwirken.

Manfred Chobot versucht schon seit Jahrzehnten, diffusen Phänomenen im Alltag klar auf die Schliche zu kommen. Für das große Kapitel Grundbedürfnis Wohnen, Freiheit und Überwachung bietet sich die Figur des Hausmeisters oder der Hausmeisterin geradezu an. Eingeklemmt zwischen dem Hausbesitzer und dem Wohnungsbenützer braucht es schon sehr viel Gefühl und Sprachgewalt, nicht zwischen den beiden Interessengruppen aufgerieben zu werden.

Neil MacGregor, Shakespeares ruhelose Welt

andreas.markt-huter - 06.10.2016

„Von Napoleon stammt die berühmte Feststellung, dass wir, um einen Menschen zu verstehen, die Zeit verstehen müssen, in der er oder sie zwanzig war. Dieses Buch möchte nicht einzelne Menschen verständlich machen, sondern eine ganze Generation – Menschen, die um 1560 in England geboren wurden.“ (16)

Neil MacGregor, Kunsthistoriker und Direktor des British Museum entführt seine Leserinnen und Leser in die Welt des William Shakespeare, in die Welt seines Publikums, als zum ersten Mal seit dem antiken griechischen Theater wieder Menschen aller Schichten Anteil nahmen an den Tragödien und Komödien der Dichter ihrer Stadt und damit selbst als Protagonisten der Theaterstücke interessant wurden. Anhand zahlreicher Gegenstände aus der Welt Shakespeares lässt MacGregor den Alltag der Menschen zur Zeit Shakespeare für seine Leserinnen und Leser wieder zum Leben erwachen.

Jürgen Becker, Jetzt die Gegend damals

h.schoenauer - 25.09.2016

Erinnern entsteht meist durch Straffen und Eindicken des Gesehenen, letztlich sind es Felder und Ränder, die von einem Geschehnis übrigbleiben.

Nicht umsonst heißen die zeitlosen Bücher Jürgen Beckers einfach „Felder“ (1964) und „Ränder“ (1968). Ein Leben lang müht sich der Autor damit ab, Verfahrensweisen zu finden, wie man die Gedächtnisbilder rekonstruieren könnte, worin die Zeiten, Orte und Vorgänge aufgegangen sind. (17) Eine überzeugende Form dafür ist der sogenannte Journalroman.

Rolf Hosfeld, Tod in der Wüste

andreas.markt-huter - 22.09.2016

„Henry Morgenthau, der amerikanische Botschafter in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, telegrafierte am Abend des 31. Juli 1915 an das State Department in Washington: «Dr. Lepsius (…) hat aus verlässlicher Quelle erfahren, dass Armenier, zumeist Frauen und Kinder, deportiert aus dem Erzurum-Gebiet nahe Kemah zwischen Erzincan und Harput massakriert worden sind.»“ (7)

Der Völkermord an den Armeniern, dem der österreichische Schriftsteller mit seinem monumentalen Werk „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ jährt sich bereits zum 100. mal und immer noch sorgt das Verbrechen für diplomatische Spannungen zwischen der Türkei und anderen Ländern. Der Kulturhistoriker Rolf Hosfeld zeichnet in seinem Buch „Tod in der Wüste“ akribisch das Umfeld, die Vorgeschichte und die Umsetzung des Völkermordes zwischen 1915 bis 1916 nach, bei dem mehr als 1,5 Millionen Menschen auf grausame Weise um ihr Leben gekommen sind.

Thomas Weyr, Die ferne Stadt

h.schoenauer - 20.09.2016

Ein Nomadensprichwort sagt, du musst aus der Stadt fortziehen, um sie zu sehen.
Thomas Weyr haben die Nazis zur Emigration gezwungen, sein Blick auf die Heimatstadt Wien ist ein ungewolltes Ergebnis eines zwangsweisen Perspektivenwechsels, die Stadt hat seither immer einen fernen Klang für ihn.

Die ferne Stadt trägt zwar die schlichte Bezeichnung Erinnerungen, sie ist aber durchaus als kunstvoller Roman aufzufassen. Das hat damit zu tun, dass das erzählende Ich als Journalist ständig ein scharfes Auge auf die Dinge wirft, die Vorfälle werden nicht nur beschrieben, sondern auch analysiert. Der Erzähler bedient sich als Ergänzung und Korrektiv der Schriften seines Vaters, der ebenfalls als Journalist die Zeitgeschichte hautnah kommentiert. So wird die persönliche Geschichte in selten öffentlicher Form mit dem allgemeinen Zeitenlauf verstrickt.

Harald Specht. Das Erbe des Heidentums

andreas.markt-huter - 13.09.2016

„Diese Suche auf den Spuren des Heidnischen im abendländischen Christentum hatte mit einem geheimnisvollen Gemälde von Nicolas Poussin begonnen, auf dem eine rätselhafte Begräbnisstätte abgebildet war.“ (11)

Ausgehend von einem berühmten Gemälde des französischen Barockmalers Nicolas Poussin mit dem unscheinbaren Titel „Die Hirten von Arkadien“ und der mysteriösen Grabinschrift „Et in Arcadia ego“ geht der Autor den zahlreichen im Bild versteckten Hinweisen auf eine längst verloren geglaubte antike Glaubens- und Vorstellungswelt nach, die bis in die Welt der griechischen, ägyptischen und mesopotamischen Mythologie und Religion zurückreichen und mit dem Siegeszug des Christentums im Laufe der Jahrhunderte verdrängt, verboten oder assimiliert worden waren.

Susann Sitzler, Total alles über die Schweiz

h.schoenauer - 07.08.2016

Damit ein Staat einen Namen hat und weltweit anerkannt ist, muss er in Werbung, Mythen und Skurrilitäten investieren. Die Schweiz ist wahrscheinlich das ironischste und kreativste Mythengebilde unter dem globalen Staatenhaufen.

Susann Sitzler rollt in bewährter „folio-Manier“ die Schweiz mit Fakten, Graphiken und Analysen vor dem Leserauge aus. Begriffe wie Kantönligeist, Schweizerkäse oder Schweizermesser beschreiben die Schweizer Seele in Wort und Ding als Unikat.

Liliana Corobca, Der erste Horizont meines Lebens

h.schoenauer - 19.06.2016

Oft ist es ein einziges Bild, das den Zustand eines Landes nach außen trägt. Im Falle Moldawiens ist es meist ein leer gefegtes Dorf, aus dem Väter und Mütter wegen der Arbeit ausgezogen sind und worin sich die Kinder mit den Alten die Welt selbst einrichten müssen.

Liliana Corobca zeigt eine Welt mit allem Drum und Dran, freilich agieren darin in der Hauptsache Kinder, während die Erwachsenen zu Komparsen einer eigenartigen Dorfidylle werden. Die Erzählerin Christina muss nicht nur auf ihre beiden Brüder aufpassen, sie muss auch den Haushalt schaukeln und ist zwischendurch für einen Teil des Dorflebens in ihrer Gasse verantwortlich.