Thomas Weyr, Die ferne Stadt

h.schoenauer - 20.09.2016

Ein Nomadensprichwort sagt, du musst aus der Stadt fortziehen, um sie zu sehen.
Thomas Weyr haben die Nazis zur Emigration gezwungen, sein Blick auf die Heimatstadt Wien ist ein ungewolltes Ergebnis eines zwangsweisen Perspektivenwechsels, die Stadt hat seither immer einen fernen Klang für ihn.

Die ferne Stadt trägt zwar die schlichte Bezeichnung Erinnerungen, sie ist aber durchaus als kunstvoller Roman aufzufassen. Das hat damit zu tun, dass das erzählende Ich als Journalist ständig ein scharfes Auge auf die Dinge wirft, die Vorfälle werden nicht nur beschrieben, sondern auch analysiert. Der Erzähler bedient sich als Ergänzung und Korrektiv der Schriften seines Vaters, der ebenfalls als Journalist die Zeitgeschichte hautnah kommentiert. So wird die persönliche Geschichte in selten öffentlicher Form mit dem allgemeinen Zeitenlauf verstrickt.

Der klassische Ablauf der Emigration tritt beinahe in den Hintergrund vor der Entscheidungskraft der Protagonisten, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Aus dem strukturierten Leben in Wien gerissen, fasst der Erzähler bald einmal den Entschluss, in London und später in New York das Leben geplant und pragmatisch in die Hand zu nehmen. Die Arbeit seiner Mutter als Ärztin und die Verwurzelung des Vaters als Schriftsteller und Nachfahre einer scheinbar tief österreichischen Adelslinie haben sie alle nicht davor gefeit, vor dem österreichischen Nazi-Mob fliehen zu müssen.

Die volle Tragweite der Entfremdung und Entfernung aus der Stadt zeigt sich im sogenannten Nachkriegs-Wien, als im Schutt der Improvisation etwas aufgebaut wird, was sich oft als Fortsetzung der „Hitlerei“ erweist. Vater und Sohn kehren nach Wien zurück und können es nicht fassen, dass sie niemand haben will. Anscheinend sind alle froh, sie losgeworden zu sein.

Während der Vater beim Ur-Kurier Fuß fassen kann, wird der Erzähler in einem Gemenge aus Kunst und Widerstand erwachsen. Eine Leitfigur ist dabei der KP-Stadtrat Viktor Matejka, der aber an manchen Tagen keine Zeit für die Betreuung persönlicher Schicksale hat. Eine wichtige Bezugsperson wird für die heimgekehrte Familie die Tiroler Schriftstellerin Alma Holgersen, die zu dieser Zeit in Wien und Tirol das katholisch-literarische Sagen hat.

Die Kapitelüberschriften zeigen recht gut das Ringen des Helden um „die ferne Stadt“: die ferne Stadt der Kindheit; die andere Stadt der Emigration, die zerstörte Stadt, die verlorene Stadt der Heimkehr, „das Wien meines Abschieds“.
Thomas Weyrs Erinnerungen haben letztlich etwas Mildes an sich, das Kopfschütteln über die österreichische Vergessens-Kultur ist nicht wegzukriegen.

Mein Verhältnis zu Wien blieb zerrissen. (335)

Thomas Weyr, Die ferne Stadt. Erinnerungen
Innsbruck: Limbus 2015, 336 Seiten, 21,00 €, ISBN 978-3-99039-040-5

Weiterführender Link:
Limbus Verlag: Thomas Weyr, Die ferne Stadt

 

Helmuth Schönauer, 17-10-2015

Bibliographie
AutorIn:
Thomas Weyr
Buchtitel:
Die ferne Stadt. Erinnerungen
Erscheinungsort:
Innsbruck
Erscheinungsjahr:
2015
Verlag:
Limbus Verlag
Seitenzahl:
336
Preis in EUR:
21,00
ISBN:
978-3-99039-040-5
Kurzbiographie AutorIn:
Thomas Weyr, geb. 1927 in Wien, Emigration, Rückkehr, lebt in New York und Wien.