Ulrich Schlotmann, Vivat Vivat Hoher Priester
Den dauerhaftesten Eindruck erwecken meist jene Bücher, die beim ersten Durchblättern als Anstrengung empfunden werden. Der erste Eindruck, nämlich – fett, schwer, barock und schelmisch verzweigt – bleibt ein Leben lang, auch wenn sich später in der Lektüre zunehmend konkret fixierter Sinn einstellt.
Ulrich Schlotmann legt jedenfalls ein fettes Buch vor, wie das in der Rezeptionsästhetik gerne genannt wird. Schon im ersten Satz ist alles klar, was ja kein Wunder ist, es gibt nämlich nur einen Satz, welcher sich absatzlos auf fast dreihundert Seiten erstreckt. Am hinteren Cover wird dieses Textgebilde als „Wort- und Satzprozession“ empfohlen.
„Warum überhaupt sollte man jetzt die Odyssee lese? Nun, sie ist eine fabelhafte und spannende Reisegeschichte, obendrein gibt es Liebe, Hass, Schiffbruch, Mord und Totschlag und Himmel und Hölle. Auch erzählerisch ist die Odyssee ein hochraffiniertes Meisterwerk. Und ja, die Irrfahrten des Odysseus sind neben der Bibel eines der Ur-Narrative unsere Literatur. […] Aber das Beste: Die Odyssee hat bei näherem Hinsehen viel mit unserer heutigen, modernen Welt zu tun.“ (S. 7)
Nicht umsonst rufen Piloten, wenn sie abstürzen, noch eine Wortfügung aus ferner Kindheit in den Voice-Recorder, ehe Stille dem harten Aufschlag folgt. Mit zunehmendem Alter berichten Sprachanwender verschiedenster Klangfarben davon, dass ihnen in Augenblicken der Überraschung, der Freude und des Entsetzen Partikel aus der Kindheit in den Sinn kommen.
Das ideale Denkmal besteht aus einem Sockel, zu dem man sich allerhand hinzudenken kann, was man vielleicht bedenken sollte. So ein Denkmal ist naturgemäß zeitlos und nicht auf die Referenz der jeweiligen gesellschaftlichen Lage angewiesen. Solche Denkmäler werden auch selten gesprengt, weil die Sprengmeister oft gar nicht mitkriegen, dass es hier etwas zu sprengen gäbe.
Nicht nur Melodien können einem tagelang als Ohrwurm im Kopf herumgehen, auch faszinierend einleuchtende Sätze können sich zu semantischen Schleifen ausdehnen, egal wie richtig oder falsch sie sind.
Künstliche Intelligenz ist heute das, was früher eine Matura-Prüfung gewesen ist. Die KI ist mit allerhand Floskeln und Fügungen vorprogrammiert und stellt daraus auf Knopfdruck gefällige Texte zusammen, die durchaus die Kraft von Lyrik verströmen können. Nach dem Ausspucken des Textes sind alle glücklich wie früher bei der Matura, wenn das gegenderte Zögling nach Jahren der Indoktrination zur Abschlussprüfung einen feierlichen Text ausgespuckt hat.
Großes Stimmungskino kann in der Literatur oft mit einem Farbton umschrieben werden, man denke an die rosa Brille oder den alle Sinnesorgane umfassenden Blues.
Eine magische Botschaft besteht üblicherweise aus einem Schlüssel ohne Schloss. - Im Falle der Literatur freilich entsperrt diese Botschaft das gesamte Buch.
Gedichte sind letztlich Vorschläge für Rituale, mit denen das Nicht-Messbare gemessen und das Nicht-Fixierbare eingefangen werden kann. Dabei wird „der Lauf der Dinge“ für Augenblicke als Andeutung einer Bewegung sichtbar, während diese Dinge schon wieder verschwunden sind.
In schwärmerischen Naturbeschreibungen der Romantik wird öfters beschworen, dass es das Ungleiche ist, das in der Natur die Lebewesen zuerst von einander in Schach hält, ehe sich dann ein harmonischer Zustand einstellt. – Im politischen Diskurs hingegen gilt das Ungleichgewicht meist als Anlass, geeignete Maßnahmen zu setzen, und sei es nur, dass man sich wie Justitia die Augen verbindet. - In der Liebe hingegen brauchen diese Augen nicht verbunden zu werden, denn die Liebe macht ja von sich aus blind.