Sandra Hubinger, Von Krähen und Nüssen
Seit ewigen Zeiten bevölkern Krähen den Kontinent und werden im Frühjahr mit Geräuschen und Fetzen vom Saatgut verscheucht, im Herbst sind dann sie es, die die Menschen in die Häuser verscheuchen, indem sie ihnen vormachen, im Nebel sei der Tod nahe.
Sandra Hubinger schart in ihrer Kurzprosa immer wieder Krähen um sich und ihre Texte und lässt sie Nüsse knacken. Seit die Vögel generell weniger werden und mit dem Aussterben drohen, denken die Menschen beim Wort Krähen an Versuchsanordnungen, wenn sie die Kreativität von Krähen beschreiben. Man spricht geradezu von der „Kräh-ativität“, wenn man den Vögeln zusieht, wie sie Nüsse knacken und Spielvorgaben mit Leichtigkeit hintergehen und ad absurdum führen.
Ein gutes Lesebändchen ist stets aufgeregt, wenn es wo eingelegt wird. Es kommuniziert mit den Lesern und fragt stumm, warum es in welcher Reihenfolge wo eingelegt wird.
Im Flanieren durch Gärten, Vororte oder Rentnerareale bleibt man oft stehen und geht einen Schritt zurück, um sich etwas genauer anzusehen, das beim ersten Vorbeigehen nur als Irritation aufgefallen ist. „Scheibenwischer mit Fransen“ wäre so eine Begebenheit, an der man zuerst vorbeigeht, ehe man sich umdreht und die Fügung unter das sprachliche Okular nimmt.
Wahnsinnigen wird oft der Seufzer nachgerufen: Denn sie wissen nicht, was sie tun. Dabei wissen diese bloß nicht, warum. Jörg Zemmler lässt ein „wahnsinniges Wir“ in seinen Gedichten auftreten. Selbstbewusst kommen Figuren und Fügungen zur Geltung, die es vor allem mit der Liebe haben. Der Untertitel präzisiert es: „Nur Zweifel gab es keine.“ – Hier sind vielleicht Missionarische am Werk.
Unter Tagebuch versteht man einerseits den Hinweis auf die Ausdauer chronologischen Schreibens, andererseits ist es ein literarisches Genre, das durchaus mit einer solitären Bedeutung unterlegt sein kann.
Der klassische Beruf eines Lektors bringt es mit sich, dass die Kunst des Lektorats oft höher eingeschätzt wird als die Texte, die gerade lektoriert werden müssen. Lektoren „alten Schlages“ sind daher die wahren Sprachmeister im Literaturbetrieb und laufen den Tagesdichtern spielend den Rang ab, was Genauigkeit, Sensibilität und Relevanz betrifft.
Wenn etwas für wichtig gehalten wird und eine Szene für die Wahrheitsfindung enträtselt werden soll, ist die Zeitlupe seit den Anfängen des Films eine gute Methode, der Erkenntnis auf die Sprünge zu helfen. Das gilt für forensische Abläufe oder Schadensmeldungen genauso wie für Lyrik, wo ja auch der pure Ablauf der Zeit in Poesie verwandelt werden kann, indem man eine Story verlangsamt oder eine Sequenz herunterfährt bis nahe an ein Standbild.
„Es kann nicht der geringste Zweifel darin bestehen, dass überhaupt alle Bücher darauf warten von Helmuth Schönauer aufgebracht zu werden: damit er sie – in Stellvertretung für die übrige zersprengte Menschheit – bei sich in Pension nehmen könne. Ehe es jedoch soweit ist, stillt dieser Musterhirte der Bibliomanie die erste, noch wenig verfeinerte Begierde aller von Lektüre Besessenen.“ (S. 7)
Bücherfreunde wissen: Die Steigerung von Buch heißt Umkehrbuch. Das ist eine Art U-Turn, wie man ihn im Rallye-Sport kennt. Man hält das Buch wie immer, macht einen U-Turn, und hat plötzlich ein anderes Buch in der Hand. Die erste Frage bei der Lektüre eines Split-Buches lautet folglich: Was lese ich zuerst? Lese ich in einem Zug bis zur Mitte, oder wechsle ich nach jedem Gedicht die Buchhälfte?
Vom Gewicht her überstrahlt der Titel „Das Buch der Kommentare“ bei weitem den erfrischenden Zusatz „Unruhiger Garten der Seele“. Das eine erinnert an archaische Bibelformate jenseits von Raum und Zeit, das andere ist die zaghafte Verortung des Individuums im Garten der eigenen Seele.