Andreas Maier, Der Ort

Jede Epoche hat ihren Schlüsselbegriff, wenn es gelingt, ihn unaufgeregt zu finden, kann   man die jeweilige Gegenwart knacken.

In Andreas Maiers Roman „Der Ort“ wird plötzlich für das erzählende Ich die Ortsumgehung zu diesem Schlüsselbegriff. Während rund herum in den Siebzigern des vorigen Jahrhunderts  alles platt gemacht und vernetzt wird, erklärt die Methode Ortsumgehung die neue Weltordnung. Jetzt, Jahrzehnte später, sitzt der Erzähler im Zimmer seines verstorbenen Onkels und arbeitet an der persönlichen Ortsumgehung.

Die größte Schwierigkeit beim Kalibrieren der Erinnerung bereitet die Unförmigkeit der Erinnerungsbrocken. Der Ich-Erzähler sitzt in der Gegenwart und beamt sich zurück in eine Zeit, als eine Kinderschar Gummitwist hüpft, wer im Gummi-Geviert ist, darf was erzählen, die übrigen stehen draußen herum wie bei einem gesellschaftlichen Empfang. Irgendwo rastet das Erinnerungsrad im Jahre 1983 ein.

All das fand nicht in Worten statt. (41)

Es ist tatsächlich ein Gefühl ohne Zeiteingrenzung, das in der Ferne auftaucht, eine Art unendliche Fete, die keine Dauer hat sondern als „stehende Ewigkeit“ empfunden wird. Anlässlich einer Party stellt sich plötzlich die Welt neu auf. Schon beim Hineingehen ins Fest übernimmt jeder seine Rolle wie in einem Stück, der Erzähler trifft auf seine Katja Melchior, danach ist nichts mehr, wie es gewesen ist. Mit drei Inschriften, Hilferufen oder angespielten Riffs versucht der Held seine Gefühlslage irgendwie einzugrenzen.

SPRING IS HERE (36) / SKUNKS ARE CRAWLING (72) / WORMS ARE SQUIRMING (116).

Wahrscheinlich ist es die simple erste Liebe, die den Helden in einen Ausnahmezustand versetzt, er faltet am nächsten Tag seinen Schlafanzug zusammen und deutet die Hülle als Stütze, die ihn in der Nacht zusammengehalten hat. Er beneidet seine eigene Unterhose, weil sie der Geliebten offensichtlich näher sein darf als der restliche Körper, „Ich nahm die Gespräche wahr, aber sie hatten keinen Inhalt.“ (92) Vollends zu einem Gefühlsmonument erstarrt dieser Pubertätsausbruch, wenn der Gebeutelte heftig an die Begehrte denkt: „Ich vollzog eine Hochzeit mit dem Ort.“ (105) Der Ort wird zu einer zeitlosen Verdichtung.

Allmählich entlässt die Erinnerung den Helden aus ihren Klauen, es hat sich offensichtlich noch anderes ereignet. Demos zum Beispiel, an denen die Jugendlichen teilgenommen haben wie an üblichen Umzügen. In den Schulstunden wird eine Vorstufe der Anarchie geübt, die sich vor allem gegen eines richtet: das Erwachsenwerden.

Beim Schreiben kommt der Held wieder zurück an den Schreibtisch, die Lesezeremonien rund um den Zauberberg damals tauchen auf, Steppenwolf kommt auf die Tischplatte, das Lesen ist manchmal auch in einem Joint untergegangen. Nach heftiger Literaturdiskussion hat der Held einmal das Bewusstsein verloren und ist von einem Freund nach Hause gebracht worden, jetzt bringt der Schreiber alles in die Gegenwart und nach Hause. - Eine verrückt genaue Form der persönlichen Geschichtsschreibung.

Andreas Maier, Der Ort. Roman.
Berlin: Suhrkamp 2015. 151Seiten. EUR 18,50. ISBN 978-3-518-42473-5.

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Andreas Maier, Der Ort
Wikipedia: Andreas Maier

 

Helmuth Schönauer, 31-03-2015

Bibliographie

Erscheinungsjahr

2015

Kurzbiographie AutorIn

Andreas Maier, geb. 1967 in Bad Nauheim, erste Romane verfasst in Brixen/Südtirol, lebt in Frankfurt/M.