Birgit Schwaner, Polyphems Garten

Figuren aus der Mythologie tauchen gerne wie in der Spionageszene als Schläfer ab, ehe sie dann zu einem besonderen Anlass geweckt und zu einem frischen Einsatz gebracht werden.

Birgit Schwaner hat für ihre dystopische Erzählung von einem digital entgleisten Gemeinwesen den einäugigen Zyklopen Polyphem zum Leben erweckt. Wie in unserer Gesellschaft üblich, dient der griechische Heroe als Namensspender für ein raffiniertes Produkt, in diesem Falle sind es Überwachungsdrohnen, die offensichtlich einäugig über der Stadt schweben.

Die Stadt liegt irgendwie in der nahen Zukunft, ist mit einem Bein aber schon in der Gegenwart angekommen. Sie ist scharf geteilt in einen Teil der Vielen, man könnte es auch die Gegend der Habenichtse nennen, und einen exklusiven Teil der Wenigen.

Der Drohnen-Konzern ist sehr zukunftsträchtig unterwegs und überschüttet die Gesellschaft mit Dingen, die diese nicht braucht. Ab und zu zeigt sich die Macht sehr menschlich und stellt das Gesicht für einen Präsidenten zur Verfügung, mit dem man sogar einen Abend verbringen kann, wenn man auserwählt wird.
Zur Tarnung und Ablenkung gibt es Polyphems Garten, ein Kunstprodukt mit offensichtlich passabler Rendite.

Hauptfigur ist Nora, sie schaut am liebsten vom Schreibtisch aus in die quer-gefräste Stadt. Ihr offizieller Wohnort ist ein Planquadrat, worin sie argwöhnisch überwacht wird, wenn sie ein Manifest an Lesende studiert oder unter dem Aussterben der Bücher leidet, die von Stromtexten, sogenannten E-books ersetzt werden. Ausschließlich Bestseller dürfen als Streamy erscheinen, und als auch das noch zu niveauvoll ist, gibt es Schreibverbot für alle, die nicht mit einer Maschine schreiben.

In wehmütigen Erinnerungsflashs denkt Nina an die eigene Kindheit zurück, als die ersten Roboter als Haushaltshilfen aufgekommen sind und der Spracherwerb noch mit Zeigen und „da-da!“ stattgefunden hat. Das Erwachsenwerden wird mit der üblichen Floskel eingeleitet: „Wir gratulieren! Du bist registriert!“ (42)

Gegen Schluss der Erzählung wendet sich Nina einem gewissen Ping zu, der als Inkarnation eines Beckett-Textes die Möglichkeit zu einer Doppelpersönlichkeit anbietet. Ping schafft auch politisches Bewusstsein und analysiert das Desaster. „Ohne Ersatzteile sterben die Wenigen!“ (70)

Vielleicht muss man in die letzten Geheimbibliotheken einbrechen und die wesentliche Literatur klauen. Aber Ping hat noch nicht die ersten Widerstandsgedanken formuliert, das schlägt der Polyphem-Konzern schon wieder zu und entwickelt die nächste Geschäftsidee: Kunst!

Birgit Schwaners Kultur-Apokalypse liest sich wie eine groteske Fortschreibung von Fahrenheit 451, verschärft von zyklopischer Eindimensionalität. Und Sequenzen vom Scannen von Kulturgut, dem Verschwinden von Büchern oder dem Ausverkauf der Nationalbibliothek an eine Suchmaschine lassen uns Leser zur Hauptfigur werden, die bereits in Polyphems Garten verlorengegangen ist.

Birgit Schwaner, Polyphems Garten. Erzählung.
Wien: Klever 2013, 90 Seiten, EUR 15,90. ISBN 978-3-902665-61-4.

 

Weiterführender Link:
Klever-Verlag: Birgit Schwaner, Polyphems Garten

 

Helmuth Schönauer, 02-06-2013

Bibliographie

AutorIn

Birgit Schwaner

Buchtitel

Polyphems Garten

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2013

Verlag

Klever-Verlag

Seitenzahl

90

Preis in EUR

15,90

ISBN

978-3-902665-61-4

Kurzbiographie AutorIn

Birgit Schwaner, geb.1960 in Frankenberg/Eder, lebt in Wien.