Boika Asiowa, Die unfruchtbare Witwe

Damit eine Gesellschaft funktioniert, muss jeder und jede seine und ihre Rolle perfekt spielen. Multikulturelle Gesellschaften überleben überhaupt nur wegen dieser Verlässlichkeit.

In Boika Asiowas Roman „Die unfruchtbare Witwe“ taucht gleich zu Beginn eine Zeremonien-Meisterin als sogenanntes Kirchenweib auf. Diese Frau wacht einerseits darüber, dass die diversen Rituale in der bulgarischen Kleinstadt eingehalten werden, andererseits streut sie Gerüchte und liefert den Nullparameter für Nachrichten.

Hauptfigur dieses Getriebes aus Schicksal, Rollenspiel und unvermummtem Brauchtum ist Vranica, die unfruchtbare Witwe. Als ihr schnell angetrauter Ehemann im ersten Weltkrieg an der Vadar-Front im Osten fällt, wird sie von der Schwiegermutter verstoßen, weil sie noch kein Kind hat.

Ich bin schon als Witwe auf die Welt gekommen, sagt Vranica, als sie auf der Straße steht, sie trägt schwarz nicht aus Trauer sondern wegen der Eleganz. (53)
Dennoch gelingt eine versteckte Liebe zum albanischen Hirsebierbrauer Adem, von dem sie tatsächlich ein Kind erwartet. Aber gerade als sie die Witwenschaft ablegen will, taucht ein unbekannter Sohn Adems aus Albanien auf und bittet ihn, gefälligst nach Hause zu kommen, um sich endlich gemäß der Blutschuld abknallen zu lassen. Adem verschwindet, die Witwe stirbt beinahe an Kindsfieber, als sie endlich ein Kind zur Welt bringt und bei der Schwiegermutter wieder um Rück-Aufnahme bittet.

In einer Prognose der Figuren, wie wir sie aus dem Abspann von Filmen kennen, wird den Lesern noch kurz in Aussicht gestellt, wie es mit den jeweiligen Schicksalen weitergeht.

Denn hinter dieser skurrilen Geschichte, die kein geregeltes Zusammenleben ermöglicht, stecken die Schicksale ganzer Volksgruppen, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg von Bulgarien fortgespült oder ins Land gespült worden sind. Neben brutalen Vernichtungsaktionen, wo Moscheen geschleift, Kirchen angezündet oder einfach dem nächstbesten Bauern die Bienenstöcke versenkt werden, schimmert immer auch der Versuch durch, mit archaischen Ritualen ein Zusammenleben zu erwirken. So geht der Geflohene wieder seiner Blutrache nach, während die Schwiegermutter erst den gefallenen Sohn am Friedhof fragen muss, ob die Witwe zurück darf. Ein ferner Großvater wirft sich vor den nächstbesten Zug, als ihm der Wodka ausgeht.

Boika Asiowa erzählt bunt-pragmatisch aus der jüngeren Zeitgeschichte Bulgariens. Angesichts des labilen Zusammenlebens der Gruppierungen muss das Individuum wohl auf die Eigenverwirklichung verzichten, soll nicht alles den Bach hinuntergehen. Aber wie heißt es in einer alten Volksweisheit, Mann und Frau sind nur halb, erst zusammen sind sie Mensch. (34)

Boika Asiowa, Die unfruchtbare Witwe. Roman. A. d. Bulgar. von Alexander Sitzmann. [Orig. 2007].
Berlin: edition Balkan Dittrich 2012. 349 Seiten. EUR 18,30. ISBN 978-3-937717-58-6.

 

Weiterführender Link:
Edition Balkan Dittrich: Boika Asiowa, Die unfruchtbare Witwe

 

Helmuth Schönauer, 26-11-2012

Bibliographie

AutorIn

Boika Asiowa

Buchtitel

Die unfruchtbare Witwe

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2012

Verlag

Edition Balkan Dittrich

Übersetzung

Alexander Sitzmann

Seitenzahl

349

Preis in EUR

18,30

ISBN

978-3-937717-58-6

Kurzbiographie AutorIn

Boika Asiowa, geb. 1945 in Raslog, ist Chemikerin und Schriftstellerin.