David Vann, Die Unermesslichkeit

Die Seele ist ein weites Land, heißt es bei Schnitzler, und David Vann scheint die Parole ausgegeben zu haben: Die Seele ist ein wildes Land.

Im Sinne einer Robinsonade verlaufen sich Gary und Irene in der Unermesslichkeit Alaskas. Er hat einmal in Kalifornien Beowulf studiert und versucht jetzt, diese archaische Story samt ihrer schicksalshaften Sprache auf einer stürmischen Insel umzusetzen, sie hat irgendwie eine Spur indigener einheimischer Wurzeln, aber jetzt ist sie überfordert und am Ende, rasende Schmerzen in den Stirnhöhlen tun ein Übriges.

Das Paar hat dreißig Jahre Ehe hinter sich, die jetzt den Bach hinuntergeht. Wie zwei kleine Pfadfinderkinder versuchen sie eine Art Blockhaus zu bauen, um in den Stürmen der Natur den eigenen Seelenstürmen auszukommen. „Warum müssen Männer immer etwas werden und können nicht einfach Männer sein“, (118) meint Irene. „Die Insel war nicht für Irene gemacht“, (333) stellt Gary lapidar fest.

Dazwischen bemüht sich ihre Tochter Rhea, wie schon ihr Name sagt, eine Art Rehabilitation der kaputten Beziehungen zu inszenieren. Dabei wird sie selbst von ihrem Partner betrogen, der seinerseits mit dem Seitensprung erpresst wird. Kurzum, in der Wildnis liegen die Hormone frei, in der Wildnis kommen die wahren Verwerfungen des Innenlebens ans Tageslicht. Das Luder dieser Konstellation dürfte darin liegen, dass es in dieser Unermesslichkeit der Gegend nur Einzelgängern gelingt, zu überleben. Urbane Gesellschaftsmodelle und Therapien scheitern gnadenlos.

Als Leser wird man immer mit rätselhaften Handgriffen und Begleiterscheinungen konfrontiert. Manch ein kluges Gespräch findet an einer Köpf-Maschine für Lachse statt, dann wiederum werden aus Treibholz seltsame Gerätschaften gebastelt, während der Kopf jeweils ganz woanders ist. Im Kontrast mit der Zivilisation in Anchorage kommt dann die Untauglichkeit der Figuren für die Wildnis erst so richtig zum Vorschein.
Auch im Falle von Gary und Irene gibt es kein Entrinnen, in dieser romantischen Landschaft endet letztlich alles fatal.

David Vann erzählt zwischen Lederstrumpf und Nordpolexpedition. Das Vokabular für innere und äußere Vorgänge ist rau, schroff und tosend wie die Witterung. Einerseits reduziert sich die Wahrnehmung auf das Wesentliche, andererseits driften die Figuren ab in verlassene Kulturtechniken, vergangene Bildungsziele und emotionale Handgriffe einer nicht beherrschbaren Welt. Allmählich taucht eine Geographie von Beziehungen aus dem Sturm auf, die nahtlos in einen weißen Fleck auf der seelischen Landkarte übergeht.- Ein romantisches, klares und unbarmherziges Erzählangebot.

David Vann, Die Unermesslichkeit. Roman. A. d. Amerikan. vonMiriam Mandelkow. [Orig.: Caribou Island, New York 2011].
Berlin: Suhrkamp 2012. 351 Seiten. EUR 23,60. ISBN 978-3-518-42296-0.

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp-Verlag: David Vann, Die Unermesslichkeit
Wikipedia: David Vann

 

Helmuth Schönauer, 15-05-2012

Bibliographie

AutorIn

David Vann

Buchtitel

Die Unermesslichkeit

Originaltitel

Caribou Island

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2012

Verlag

Suhrkamp-Verlag

Übersetzung

Miriam Mandelkow

Seitenzahl

351

Preis in EUR

23,60

ISBN

978-3-518-42296-0

Kurzbiographie AutorIn

David Vann, geb. 1966, auf Adak Island / Alaska, lebt in Kalifornien.