Herbert J. Wimmer, Membran

In der dichtesten Form des Romans fallen Inhalt und Anwendung zusammen und es entsteht oft eine eigene Roman-Gattung.

Herbert J. Wimmer konzipiert mit seinem Membran-Roman eine Vorgehensweise, bei der die Trennschicht zwischen Text und Leser möglichst dünnhäutig ist, so dass Teile der Leseranwendung in den Text strömen und dieser sich im Leser verfestigt.

In der Physik wird als markantes Beispiel für die Funktion einer Membrane die Seifenblase angeführt, durch wohl dosierte Kräfte wird sie zusammengehalten, bei zu großen Kräften zerplatzt sie.

Was es mit den Kräften des Membran-Romans auf sich hat, erläutert Herbert J. Wimmer in einem Werkstattgespräch mit seinem Verleger Dieter Bandhauer. Der Roman ist durchaus nach mathematisch-physikalischen Gesetzen aufgebaut, vieles ist pragmatisch vorgegeben, vieles muss sich aber der Leser selbst erarbeiten. So wie der Leser von einer Membran umgeben ist, die ihn vor anderen Lesern schützt, aber auch zu ihnen in Kontakt treten lässt, ist der Text umhüllt von einer Membran, durch die an Schnittstellen andere Texte eindringen.

Der Roman ist als magisches Quadrat aufgebaut, das auch als Frontispiz aufgezeichnet ist. Quer durch den Roman ziehen sich Zitate von Elfriede Gerstl, die dem Text oft erst einen historischen Halt geben, andererseits sie selbst schützen vor den Mächten des Vergessens. So wird die Membran auch zu einem Memorial, durch das die Autorin hindurch und auf die Leser zugeht.

ich bin mein bester tandler. nur bei mir finde ich, was mir gefehlt hat – was mich interessiert, freut, überrascht; wunderbar, was man alles vergisst. (5)

Dieser Eröffnungssatz von Elfriede Gerstl ermöglicht es den installierten Figuren, mit diesem Sinn-Material eigene Verfassungen zu schreiben, Amnesie ist keine Lösung, heißt es bald einmal. Je später die fünfundzwanzig Konvolute, wie die Kapitel genannt werden, im Buch auftauchen, umso später kommt Elfriede Gerstl zu Wort, bis sie im Schlusskonvolut das Schlusswort hat.

reflexion kennt kein pardon. (215)

Während sich die Konvolute um die Buchstaben des Alphabets herum versammeln, verorten sich die Sinn-Träger in den einzelnen Gassen und Straßen, von der Kleeblattgasse ausgehend über den Neuen Markt und die Kantstraße zurück zur Kleeblattgasse.

Manche Sätze scheinen sich direkt an den Leser zu richten, andere muss er über Umwege auf sich selbst beziehen.

wenn ich dich gerettet haben werde, werde ich vielleicht wissen, wer du bist. auf jeden fall aber werde ich erfahren, wer ich bin. (149)

In Herbert J. Wimmers Membran muss man sich vielleicht einlesen, wie man sich in ein kompliziertes Spiel einspielen muss, aber dann steht der Beschäftigung mit der dünnen Haut der eigenen Seele nichts mehr im Wege.

Herbert J. Wimmer, Membran. Roman. Mit einem Werkstattgespräch als Nachwort.
Wien: Sonderzahl 2013. 234 Seiten. EUR 19,90. ISBN 978-3-85449-392-1

 

Weiterführende Links:
Sonderzahl Verlag: Herbert J. Wimmer, Membran
Wikipedia: Herbert J. Wimmer

 

Helmuth Schönauer, 10-07-2013

Bibliographie

AutorIn

Herbert J. Wimmer

Buchtitel

Membran

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2013

Verlag

Sonderzahl Verlag

Seitenzahl

234

Preis in EUR

19,90

ISBN

978-3-85449-392-1

Kurzbiographie AutorIn

Herbert J. Wimmer, geb. 1951 in Melk, lebt in Wien.