Julia Kissina, Frühling auf dem Mond

In der Literatur ist der Mond oft für jene Verhältnisse zuständig, die auf der Erde nicht möglich sind.

Julia Kissina erzählt vom „Zustand des Lunitarismus“, den ein etwa zwölfjähriges Mädchen erlebt, ehe es dann rasch erwachsen wird. Die Ich-Erzählerin ist gerade dabei, sich als Individuum zu fassen und gewisse Lebensprogramme zu starten. Sie lebt im Umbruch mit sich selbst, und auch die Stadt Kiew, worin sie ihre Lebenserfahrungen macht, ist gerade im Umbruch.

Ständig fahren Bagger auf und reißen ganze Stadtteile nieder, soziale Geflechte werden aufgegeben und neu verknüpft, die Alten erzählen noch schnell etwas vom großen Vaterländischen Krieg, ehe sie in das Vergessen abtauchen.

Erstes unverwechselbares Stück Heimat ist dabei das sogenannte anatomische Theater, worin verschiedene Schauobjekte in armenischen Kognak eingelegt theatralische Stegreif-Rollen in ihren Schaugläsern spielen. Die ehemaligen Föten, Organe und menschlichen Gebilde sind einerseits zur Geschichte konserviert, andererseits erzählen sie schaurig individuelle Biographien.

Nach dem Muster dieses anatomischen Theaters nimmt die Erzählerin erste Kontakte zur eigenen Geschichte auf, erlebt dabei eine sogenannte antisowjetische Wohnung, deren Insassen immer wieder verhört und eingesperrt werden und formuliert das erste Glück in der Sommerfrische des Kaukasus.

Eine Freundin bringt ihr das Dichten bei, wobei es vor allem darum geht, sich klug mit Wodka in Schwung zu bringen, dann kommt die Poesie wie von selbst.

Denn was ist das wichtigste in unserem Land? – Poesie! (132)

Die erste Liebe testet man am besten mit einem Toten, dann kann man sich an dieses Phänomen des Verliebt-Seins am besten herantasten. Als die erste Regel einsetzt, empfindet diese die Heldin als Krebs und reagiert mit dem entsprechenden Krankenprogramm, wie sie es von sterbenden Tanten und Onkeln gelernt hat.

Manchmal irrte ich durch ein Vakuum, legte auf der Suche nach Stimmen Kilometer zurück, und dann schien die Stadt zu verschwinden, als zerschmelze sie in meinem eisigen Gehirn. (119)

Allmählich kristallisieren sich auch politische und künstlerische Vereine heraus, sofern man das in diesem Alter überhaupt logisch festmachen kann. Einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen dabei die Onanisten, die ES nur zeigen, aber nicht machen. (152)

Als wieder einmal ein Stadtteil gleichsam über Nacht abgerissen wird, hat die Erzählerin genug von diesem lunitarischen Zustand und beschließt, schnell erwachsen zu werden.

„Frühling auf dem Mond“ ist ein raffinierter Bildungs- und Entwicklungsroman, er zeigt mit den Mitteln der wörtlichen Aufklärung die wahren Zusammenhänge im Leben einer ausgewucherten Stadt, deren Gesetze sind nicht von dieser Welt sind. Wer die Welt begreifen will, muss den Umweg über den Mond nehmen. – Eine völlig optimistische Geschichte!

Julia Kissina, Frühling auf dem Mond. Roman. A. d. Russ. von Valerie Engler. [Orig.: Vesna nia lune, Moskau 2012].
Berlin: Suhrkamp 2013, 248 Seiten, EUR 19,50, ISBN 978-3-518-42363-9.

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp-Verlag: Julia Kissina, Frühling auf dem Mond
Wikipedia: Julia Kissina

 

Helmuth Schönauer, 21-05-2013

Bibliographie

AutorIn

Julia Kissina

Buchtitel

Frühling auf dem Mond

Originaltitel

Vesna nia lune

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2013

Verlag

Suhrkamp

Illustration

Valerie Engle

Seitenzahl

248

Preis in EUR

19,50

ISBN

978-3-518-42363-9

Kurzbiographie AutorIn

Julia Kissina, geb. 1966 in Kiew, lebt in Berlin.