Margarita Kinstner, Mittelstadtrauschen

Die Mittelstadt liegt literaturgeographisch vermutlich zwischen dem Großstadtroman „Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin und dem skurrilen Kleinod des „geometrischen Heimatromans“ von Gert Jonke.

Margarita Kinstner legt ihren Sound vom Mittelstadtrauschen markant über ein Gebilde, das vielleicht nur aus einem Punkt besteht, worin das volle Mittelmaß im Abfluss innehält. Die literarische Stadt beinhaltet alle Merkmale von Wien, aber wie die diese U-Bahnstationen, Plätze und Cafés angeordnet sind, deutet auf eine andere Ordnung hin als jene eines Chronisten oder Stadtplaners.

Die Beschreibung des Mittelstadtrauschens unterwirft sich fünf Vorgängen: Verschränkung, Interferenz, Absorption, Disentanglement (Entwirrung) und Fliehkraft. Nach diesen Vorgaben lassen sich jede Menge Schicksale über der Stadt ausstreuen und wieder zusammensammeln.

Der Start zu dieser Wahrnehmungsorgie ist fulminant und trivial in einem Guss. Marie stößt im Café eine Kaffeetasse um und bringt dadurch Jakob in Schwung, der gleich mit einer Anmache loslegt, in die erfundene und erträumte Episoden eingearbeitet sind. Die Chiffre vom Ausschütten und Versickern lassen passt auch auf die Lebensläufe der Protagonisten. Marie und Jakob lassen die bisherigen Verhältnisse sausen und lassen sich eine Zeitlang zusammen treiben.

Dabei surren die Figuren mit ihren Schicksalen wie Trabanten um die Stadt. Der Lebenskünstler Joe springt in den Donaukanal, indem er den Suizid als Kunstprogramm inszeniert, eine Testamentseröffnung wird zu einer Performance im Prater, die alte Hedi altert zwischen Demenz und Durchhalteparole.

Ein Gewusel von kleinen Szenen schlingert durch die Stadt, die einzelnen Episoden starten dabei oft mit einer auf trivial getrimmten Erkenntnis der beiläufigen Art.

Seit Hedi Brunner das Essen auf Rädern bekommt, ist ihr Klo noch dreckiger als sonst. Das Essen muss einen weichen Stuhl machen. (74)

Seit Joes Tod treibt Gery durch die Tage wie ein Schlauchboot. (139)

Alt darf man heutzutage nicht werden, alle kriegen den Krebs. (127)

Die Figuren sind Partikel, die durch die Stadt treiben wie ein Paralleluniversum. Nicht umsonst versucht der Held von der ersten Seite immer wieder eine Dissertation über Photonen und andere seltsame Phänomene zu verfassen in der Hoffnung, dass diese Arbeit etwas Gültiges über die allgemeingültige Welt aussagen könnte.

Am Umschlag ist eine Art Familienaufstellung abgebildet, worin in den vagen Zügen eines Stammbaumes die Zusammenhänge und Interferenzen der einzelnen Helden aufgelistet werden.

Und was ist die Moral dieser quirligen Aufwallung quer durch die Stadt? – Es gibt keinen Plan, wir sind alle bloß Partikel, die über das geographische Geviert geblasen werden. Das Mittelstadtrauschen ergibt sich aus dem Zusammenprall mittelmäßiger Individuen in einem mittelmäßigen Ambiente. Letztlich gleichen diese Menschen spielerischen Apps, die sich manchmal selbst herunterladen und dann wieder offline sind. Ein lebensnahes Spiel an der Mittelauflage der Stadt.

Margarita Kinstner, Mittelstadtrauschen. Roman.
Wien: Deuticke 2013. 285 Seiten. EUR 20,50. ISBN 978-3-552-06226-9.

 

Weiterführender Link:
Deuticke Verlag: Margarita Kinstner, Mittelstadtrauschen

 

Helmuth Schönauer, 27-09-2013

Bibliographie

AutorIn

Margarita Kinstner

Buchtitel

Mittelstadtrauschen

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2013

Verlag

Deuticke Verlag

Seitenzahl

285

Preis in EUR

20,50

ISBN

978-3-552-06226-9

Kurzbiographie AutorIn

Margarita Kinstner, geb. 1976 in Wien, lebt in Wien.