Marjana Gaponenko, Wer ist Martha?

Im aktuellen Literaturbetrieb benützen immer öfter dreißigjährige Autorinnen alte Protagonisten mit der Diagnose Krebs, um jenen Stoff zu erzählen, der ihnen als Dreißigjährige sonst nicht als glaubwürdig abgenommen würde.

Das hat vielleicht mit einer Sehnsucht zu tun, dass das Alter erträglich sein kann, wenn man es mit den Augen der Jugend sieht, das hat vielleicht mit dem Phänomen zu tun, dass selbst engagierte Junge nur mehr den Alten die Revolution zutrauen.

In Marjana Gaponenkos Roman „Wer ist Martha?“ kriegt der sechsundneunzig-jährige Vogelkundler Lewadski die obligate Diagnose Krebs, worauf er noch einmal ans Limit geht und alles ausprobiert, was sein Leben abrunden könnte.

„Das Bedürfnis, im Luxus zu sterben, in dem er nie gelebt hatte, breitete sich in Lewadski aus wie ein Scheunenfeuer.“ (30) Aus diesem Grund kauft er sich einen teuren Anzug und einen Spazierstock und reist nach Wien, wo er im Imperial absteigt.

In diesem Hotel hatte er einst gewohnt, als er bei einem Vogel-Kongress seine wissenschaftlichen Leistungen referieren durfte. Und die sind wegen der langen Lebenszeit beachtlich, meist weiß Lewadsiki von einem Land nichts anderes, als welche Vögel dort in welcher Höhe vorkommen.

Die Vögel sind das einzig Sichere, denn während sich politisch immer alles ändert, bleiben die Habitate der Tiere fix. Bei der Geburt Lewadskis irgendwo bei Lemberg ist die letzte Wandertaube namens Martha gestorben und dient dem Helden ein Leben lang als geheimes Wappentier. Sonst ist dem Alten noch in Erinnerung, dass er in zwei Utopien gelebt hat, in der Habsburger Doppelmonarchie und im Sowjetismus.

Jetzt im Imperial hilft ihm ein Hausdiener beim Baden, auf den Fluren und im Speisesaal vermischen sich die Gesprächsfetzen zu einer Hotelgeschichte, die über Jahrhunderte und Kontinente streift, ein skurriler Herr Witzthurn kommentiert die neuesten Frisuren und Wodka-Mischgetränke.

Lewadski zieht noch einmal seine innere Uhr auf, damit er in zwei Wochen tot umfallen kann. Dazwischen hält er es mit den Vögeln, die kluge Selbstgespräche führen als Gezwitscher.

In diesem Hotel bin ich nicht zum Vergnügen, ein Vogelkundler darf alles, bloß nicht in eine leeres Vogelnest blicken. (213)

Ganz pathetisch schlurft der Held schließlich ans Ende des Ganges, wo sich eine Nottreppe auftut, die von einem Gummibaum verdeckt ist. Dieser Gummibaum als Petrus-Ersatz nimmt Landowski schließlich die letzten Gedanken ab, ehe Held und Roman verlöschen.

Der Held ist natürlich fallweise sehr witzig, unbeholfen und lebensklug. Aber Marjana Gaponenko schickt ihn eher in kitschiger Aufmachung wie in einem Feiertagsprogramm einer öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt durch das Imperial. Dieser Held hat einfach zu viel Sendung. Und eines ist einem als Leser bald klar: So ist das Altern und Sterben nicht, so ganz sicher nicht, auch wenn man es als schönen Traum auffasst.

Marjana Gaponenko, Wer ist Martha? Roman.
Berlin: Suhrkamp 2012. 236 Seiten. EUR 20,60. ISBN 978-3-518-42315-8.

 

Weiterführender Link:
Suhrkamp-Verlag: Marjana Gaponenko, Wer ist Martha?
Wikipedia: Marjana Gaponenko

 

Helmuth Schönauer, 02-01-2013

Bibliographie

AutorIn

Marjana Gaponenko

Buchtitel

Wer ist Martha?

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2012

Verlag

Suhrkamp-Verlag

Seitenzahl

236

Preis in EUR

20,60

ISBN

978-3-518-42315-8

Kurzbiographie AutorIn

Marjana Gaponenko, geb. 1981 in Odessa, lebt in Mainz.