Oksana Sabuschko, Planet Wermut

Manche Namen erzeugen von sich aus einen sakralen Sound, manche Orte werden ungefragt zu einem Mythos, an dem sich eine ganze Nation aufrichtet oder zugrunde geht.

Oksana Sabuschko widmet sich in ihrem „Kern-Essay“ dem Planeten Wermut, die alte ukrainische Ortsbezeichnung für Tschernobyl heißt nämlich nichts anderes als Wermut. Über Tschernobyl wird vor allem international gesprochen, im eigenen Land gibt es einen recht seltsamen Zugang zu dieser Katastrophe. Das hat damit zu tun, dass ursprünglich alle Informationen darüber von „außen“ gekommen sind und es im Innern kaum eine Kultur gibt, wie man mit diesen Katastrophen des Kolonialismus umgehen könnte.

Die Geschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert ist eine Geschichte der Unterdrückung und des Kolonialismus, einbegleitet von der größten künstlichen Hungerkatastrophe, dem Holodomor 1933, beendet 1986 durch die Reaktorkatastrophe, die zumindest in den Grundzügen die spätere Unabhängigkeitserklärung auslöst. Die Autorin, die manchmal der Generation Tschernobyl zugerechnet wird, nennt es das Eindringen durch die Ritzen des Sarkophags in die Literatur. (67)

Oksana Sabuschko sucht nach philosophischen und künstlerischen Strukturen, um das Unsagbare dieser Katastrophen und die Leere dazwischen in Bilder, Chiffren oder Worte zu fassen. Sie wird fündig beim ukrainischen Schriftsteller und Filmemacher Oleksandr Dowschenko, der zur Zeit Stalins russifiziert eine eigentümliche Geheimsprache des Schreckens und der Wahrheit entwickelt, indem er über die sogenannte natürliche Grausamkeit zu Bildern des Nicht-Zeigbaren findet.

In ähnlicher Form arbeitet Lars von Trier in seinem Film Melancholia, worin so nebenher die Erde zerstört wird, während die Helden sich mit sich selbst beschäftigen.

Die dritte Ausdrucksform des Ungeheuren stammt von Andrej Tarkowskij etwa im Film Nostalghia.
Der Essay „Planet Wermut“ schafft über den Umweg der Filmsprache einen Zugang zu jenem Reich des Schreckens und der Geschichtslosigkeit, das der Ukraine fast ein Jahrhundert lang über den Kopf gestülpt worden ist. So ist es kein Wunder, dass letztlich Fußball die einzige Identitätsstiftende Macht dieser geschundenen Nation ist.

Im Essay „Das letzte Tor“ kommt es unter anderem zur herzergreifenden Episode, dass ein Match zwischen der Ukraine und Österreich 1:1 steht, da singen die Ukrainer ihre Nationalhymne und wumms, sind die Österreicher vom Rasen gefegt. (Das ist ja die Aufgabe der Österreicher, anderen Nationen zu Selbstbewusstsein zu verhelfen!)

Zwei ältere Essays über das sogenannte Abtreibungszimmer 101 und die „Frau und Schriftstellerin in einer Kolonialkultur“ ergänzen das ukrainische Gefüge mit den Aspekten Gender, Kolonialismus, Überlebenskultur.

Oksana Sabuschkos Essays zeigen mit Insider-Blick, worauf wir von außen meist vergessen, weil wir zu schnell mit unseren Urteilen hinwegfegen. Die Ukraine ist ein Kultur-Kontinent, dem ein Jahrhundert lang die Oberfläche abgetragen worden ist.

Oksana Sabuschko, Planet Wermut. Essays. A. d. Ukrain. von Alexander Kratochvil.
Graz: Droschl 2012. 168 Seiten. EUR 19,-. ISBN 978-3-85420-795-5.

 

Weiterführende Links:
Droschl-Verlag: Oksana Sabuschko, Planet Wermut
Wikipedia: Oksana Sabuschko

 

Helmuth Schönauer, 03-05-2012

Bibliographie

AutorIn

Oksana Sabuschko

Buchtitel

Planet Wermut

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2012

Verlag

Droschl-Verlag

Übersetzung

Alexander Kratochvil

Seitenzahl

168

Preis in EUR

19,00

ISBN

978-3-85420-795-5

Kurzbiographie AutorIn

Oksana Sabuschko, geb. 1960, lebt in Kiew.