René Sydow, Der Reiher

Oft ist die Situation, in der man eine Todesnachricht erhält, beeindruckender, als die Todesnachricht selbst, vor allem, wenn man den Verstorbenen erst in der eigenen Biographie aufstöbern muss.

In René Sydows Roman „Der Reiher“ geht es um das Abrunden eines Lebens, um den Frieden mit den Verstorbenen, Überlebenden und sich selbst. Zu diesem Zweck macht der vierundsiebzigjährige Richard eine Reise zu sich selbst durch.

Die Todesnachricht beinhaltet einen Flash in die Kindheit, es handelt sich nämlich um Heinz, dem alten Freund aus Kindertagen, der wie der Erzähler in der gleichen Gaststätte eines Ortes mit dem ungewöhnlichen Namen Kattenhorn geboren worden ist. (13)

Während sich der Erzähler noch von einer Kaffeefahrt erholt, packt er seinen Koffer für eine Reise in die Vergangenheit. Er wird den Weg zurücklegen in jene Gegend, die er vor dreißig Jahren verlassen hat, seinen Freund begraben und mit seiner Tochter Geburtstag feiern.

Als Richard sich mit den neuen Techniken des Fahrscheinautomaten auseinandersetzt und die Züge völlig neu aufgestellt in die Vergangenheit zurückfahren, tauchen letztlich verdrängte Ereignisse auf, von denen nicht klar ist, ob sie erfunden oder bloß schwach erinnert sind.

Im Mittelpunkt des Erinnerns steht eine Tragödie am Bootssteg, als eine Schulkollegin im See ertrinkt, weil sie Heinz spaßhalber ins Wasser geworfen hat. Heinz und Richard schweigen, und schwören, diesen Vorfall niemals zu vergessen, aber der Erzähler hat es dann doch vergessen, wie er verschämt bemerkt.

Eine andere Geschichte ist seine erste Ehe, von der nur die Tochter als unerwartetes Erinnerungsstück übrig geblieben ist. Auch hier ist so gut wie alles verschwunden im Sog der Vergangenheit, nur über Umwege lassen sich Teile dieser Beziehung rekonstruieren.

Offensichtlich hat die Kindheit die magische Kraft, dass sie unerwartet Geschichten auslöst, wenn man sie wieder aufsucht. „Vielleicht hat ein Mensch mehr mit dem Ort zu tun, von dem er kommt, als mit anderen Menschen.“ (140)
In einem Zeitrausch Marke Alptraum rast der Erzähler schließlich durch die

Abgründe seines Unterbewusstseins. Er will einen Zug besteigen, in dem seine Enkelin sitzt, hat aber kein Ticket, sodass ihn der Schaffner in Gestalt eines überdimensionalen Reihers ausspuckt wie ein ertrunkenes Subjekt.

Der Held findet schließlich seinen Frieden mit sich, „ich war vier Jahre alt und mit dem Schlauchboot auf See.“ (174)

Der Reiher ist ein Roman über das Erinnern und Vergessen, die Handlung legt sich wie das Leben in jene Kurven, welche nur selten logisch in die biographische Landschaft gefräst sind.

René Sydow, Der Reiher. Roman.
Innsbruck, Wien: Kyrene 2012. 177 Seiten. EUR 16,50. ISBN 978-3-902873-05-7.

 

Weiterführender Link:
Kyrene-Verlag: Bücher

 

Helmuth Schönauer, 20-11-2012

Bibliographie

AutorIn

René Sydow

Buchtitel

Der Reiher

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2012

Verlag

Kyrene-Verlag

Seitenzahl

177

Preis in EUR

16,50

ISBN

978-3-902873-05-7

Kurzbiographie AutorIn

René Sydow, geb. 1980 in Radolfzell, lebt im Ruhrgebiet und am Bodensee.<br />