Wenn jemand abgekoppelt von allen Mitteln, die zum Leben notwendig sind, sein Dasein fristen muss, lebt er quasi an der Nullstufe der Existenz.
In Szilárd Borbélys Roman „Die Mittellosen“ bewegt sich ein Kind am Rande der Familie, Gesellschaft und Sprache ausschließlich auf jenen Punkt zu, wo es das Dorf verlassen wird. Dieses Dorf ist ein gottvergessener Siedlungshaufen im Nobody-Dreieck Ungarn-Ukraine-Rumänien. Der Ich-Erzähler wächst unter seltsamen Befehlen und Ratschlägen auf, so soll er nie zugeben, dass er Jude ist, wenn schon, dann höchstens Huzule oder Ruthene. (242)
Zwar erkennt man Juden nicht gleich als solche, aber meist sind es Menschen, die an einem anderen Ort sterben, als sie geboren sind, wie es einmal verbittert heißt.
Der Erzähler hat einen ausgesprochen seltenen Zahlentick, er kann die Primzahlen bis in die Unendlichkeit hinein auswendig und versucht damit, die Welt in Kategorien und Ordnungen einzuteilen, aber das funktioniert nicht, weil man mit Primzahlen nichts teilen kann.
Die Menschen leben unter desaströsen politischen Umständen in Randlage dahin, hauptsächlich von kleinen Arbeiten wie etwa Lehm stampfen oder Gülle ausbringen, dem Vater gelingt es gar, bei einem Pumpwerk unterzukommen. Jeder beäugt jeden argwöhnisch in diesen sechziger Jahren, wo der Krieg noch immer hautnah zu spüren ist und der Kommunismus als offizielle Staatsreligion vor allem mit Floskeln arbeitet.
Viel Alkohol ist im Spiel und wenn genug Suff getankt ist, kommen manchmal eigentümliche Ideen ans Licht, so ist Großvater sicher ein ungarischer Faschist gewesen. In allen Varianten versuchen die Erwachsenen, eine Art Identität zu finden. Wir sind Rumänen, aber man nennt uns Zugereiste. Wir sind Adelige, nur der Adelsbrief ist verloren gegangen.
Da im Dorf nichts von der Vergangenheit aufgearbeitet worden ist, gehen die Vorurteile und Ausgrenzungen unverblümt weiter. Das Kind wird verspottet und gemobbt, in der Nacht werden Ziegelsteine durchs Fenster geschmissen.
Ich werde hier weggehen und niemals wiederkommen! (283)
Diesem psychischen Hardcore-Roman über eine Kindheit als Geächteter in einem Dorf sind im Anhang noch ein paar Texte beigefügt, die von der Stimmung im zeitgenössischen Ungarn jenseits von Orban und Urbanität berichten. Das depressive Element zieht sich wie Primzahlen durch die Texte, die nichts enträtseln und alles verschlüsseln und dennoch den Suizid des Autors nicht verständlich machen können.
Die Mittellosen sind nackte Existenzen ohne Verschnörkelung, voller Selbstzweifel und Ratlosigkeit, wie sie zu Tausenden am Rande Europas angesiedelt sind um sie zu vergessen.
Szilárd Borbély, Die Mittellosen. Roman. A. d. Ungar. von Heike Flemming und Lacy Kornitzer. [Orig.: Nincstelenek, Bratislava 2013].
Berlin: Suhrkamp 2014. 350 Seiten. EUR 25,70. ISBN 978-3-518-42450-6.
Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Szilárd Borbély, Die Mittellosen
Wikipedia: Szilárd Borbély
Helmuth Schönauer, 22-10-2014