Thomas Northoff, Nein Eleven

Kampfschreie unterliegen keiner Rechtschreibregel, weshalb die Graffiti mit anderen Wörtern an den Mauern kleben als die Lehrsätze im Innern eines Geschichtsbuches.

Thomas Northoff ist Graffiti-Forscher und dadurch wohl auch zu einem Graffiti-Lyriker geworden. Sein „Nein Eleven“ ist eine riesige Wurst voller Kampf, Krieg, Elend und Irrtum, die über hundertfünfzig Seiten ausgegossen ist. Keine Wand der Welt könnte diese Gedächtnisschrift aufnehmen, die auf jene Katastrophe reagiert, die mittlerweile unter nine eleven subsummiert wird.

Nein Eleven ist eine blutige Elegie auf die Geschehnisse im Twin Tower und den anschließenden Irak-Krieg Zwo. In fünf Abschnitten wird jeweils eine prekäre Lage der Nation ausgerufen, es gibt eine unübersichtliche Lage, die durch die Schlagzeilen nicht verbessert wird. Nein Eleven ist eine Ansammlung von Schlagzeilen, ein überdimensionaler Notizblock, auf dem eine überirdische Hand Notizen hingefetzt hat, eine ins Atemlose verkürzte Sprache, die keine Kommunikation mehr zulässt.

Die Lyrik dieses Entwurfs nach der Wirklichkeit ist knapp, keine Zeile dauert länger als ein paar Silben, die einzelnen Wörter sind eher als Schüsse formuliert, als dass sie etwas Zusammenhängendes formulierten.

Der Zusammenhang entsteht beim Leser, wenn ihm zu den einzelnen Sequenzen unvergessliche Bilder kommen, die er einmal auf einem Bildschirm gesehen hat. Aus den Begriffsketten lassen sich ganze Filme entwickeln, die freilich eine andere Wirklichkeit zeigen als die offiziell verströmten Bilder.

„Bodentruppe, Ortszeit, Bath Partei, Statue stürzt!“ – Das Bild der umgekippten Herrscherstatue in Bagdad ist da, aber es sagt den Umstehenden gleich viel wie uns Entfernten, die Bilder bleiben immer Hackschnitzel.

Dieser stroboskopische Schnelllauf einer Bewegung zeigt sich auch bei diplomatischen Maßnahmen oder Friedensgesprächen, einmal in Wien sogar. Ständig sitzt eine Runde um den Teekessel herum, draußen stolpern die orangen Gefangenen von Guantanamo über die eigenen Fesseln, drinnen löst sich die Semantik auf.

Nahe Granateinschläge, / Hunderte Delegierte / Ab. / Premier: / Anwesenheit / Ansage Kampf / Auseinander. / Schwarzer Turban: / Widerstand, Tod! (80)

Hinter den Parolen zerfallen die Sätze zu lyrischem Staub, kleine Bedeutungen kragen noch aus der Wörtermasse, der Lehm des Gusskörpers zerfällt, noch ehe eine Bedeutung gegossen ist.

Thomas Northoff sprüht unbeirrbar seine Elegie von Krieg, Scheitern, Lüge und Schein an unsere Innenhaut der Empfindung. Die Wörter liegen schon vor ihrer Verwendung als abgeschossene Hülsen herum. Hier handelt es sich tatsächlich um einen Entwurf nach der Wirklichkeit.

Thomas Northoff, Nein Eleven. Entwurf nach der Wirklichkeit, Lyrik der Gegenwart 47
St. Wolfgang: Edition Art Science 2015, 167 Seiten, 12,00 €, ISBN 978-3-902864-42-0

 

Weiterführende Links:
Edition Art Science: Thomas Northoff, Nein Eleven
Wikipedia: Thomas Northoff

 

Helmuth Schönauer, 01-09-2016

Bibliographie

AutorIn

Thomas Northoff

Buchtitel

Nein Eleven. Entwurf nach der Wirklichkeit

Erscheinungsort

St. Wolfgang

Erscheinungsjahr

2015

Verlag

Edition Art Science

Reihe

Lyrik der Gegenwart 47

Seitenzahl

167

Preis in EUR

12,00

ISBN

978-3-902864-42-0

Kurzbiographie AutorIn

Thomas Northoff, geb. 1947 in Wien, lebt in Wien.