Wilhelm Genazino, Tarzan am Main

Während Tarzan wie selbstverständlich zur Liane greift, um von einem Hot-Spot des Dschungels zum nächsten zu schwingen, greift ein Autor zum essayistischen Erlebnisbericht, wenn er sich durch den Dschungel einer Stadt zu schwingen hat.

Wilhelm Genazino schwingt sich in seinem Beobachtungsessay durch alle Stadtteile Frankfurts, dabei beschreibt er triviale Sehenswürdigkeiten und Alltagspersönlichkeiten genauso wie seinen literarischen Weg durch die Stadt und das eigene Schreiben.

Da Frankfurt mittlerweile einen so großen Flughafen hat wie das ganze Bundesland Hessen groß ist, glaubt der aus allen Weltteilen Anlandende, Frankfurt zu sehen. In Wirklichkeit ist alles von der Luft aus Gesehene das Umland von Frankfurt.

Auch die Stadt selbst fasst man am ehesten dadurch, dass man ihr keine konkreten Attribute verleiht. So ist Frankfurt keine Literaturstadt, wiewohl dort ab und zu die Buchmesse stattfindet. Sie hat auch keine Flaniermeile sondern nur Gegenden, die die Fußgänger gewähren lassen.

Dem essayistischen Ich-Erzähler gehen Straßenzüge, Kindheitserinnerungen und Schreibprogramme fließend durcheinander. Als er einmal glaubt, dass der Arbeiterroman am Ende sei, erfindet er den Angestellten-Roman. Diese Roman-Sorte Marke „Abschaffel“ ist zwar eine Zeit lang sehr erfolgreich, verändert aber nichts und kann auch das Altern des Autors nicht stoppen. An manchen Straßenkreuzungen stellt er sich spontan die Frage, ob er das Schriftstellerleben nicht abschließen soll.

Soll ich überhaupt noch einen Roman schreiben? (115)

Manchmal in unbeobachteten Momenten rutscht dem Ich-Erzähler etwas aus der Hand, es gibt nämlich eine öffentliche und eine private Form des Alterns. Das Altern ist dann nichts anderes als eine Selbstdrosselung, eine Sackgasse ohne Rückkehr. (133)

Dabei liegt an allen Ecken und Enden Roman-Stoff aus. „Der Supermarkt ist die kleinste mögliche Erlebniseinheit in der Stadt.“ (108) An anderer Stelle sitzt die obligate abgewrackte Figur, wie sie in allen Städten auftaucht. Es ist ein ehemaliger Schulkollege, der noch den Namen kennt und den Vorbeihuschenden Genazino nennt.

Manche Stellen wie etwa der „Straßenrausch“ gehören seit Siegfried Kracauer zu jeder Stadtbeschreibung. Und immer wieder flutet dieses Frankfurt hinaus in die Umgebung, wo etwa in den ICE jene geschlechtslosen Typen sitzen, die von Job und Eheleben gleich weit entfernt sind.

Grade dieses unbekümmerte Herumschwingen durch Tagebuch, Roman-Vorstufe, Stadtplan und Werkanalyse lässt den Leser bei Wilhelm Genazino den befreiten Tarzan-Schrei heraushören, der freilich verstummt, wenn die angesungenen Stellen in ihrer urbanen Öde und Zerknirschtheit sich vor dem Auge auftun.

Wilhelm Genazino, Tarzan am Main. Spaziergänge in der Mitte Deutschlands.
München: Hanser 2013. 138 Seiten. EUR 17,40. ISBN 978-3-446-24122-0.

 

Weiterführende Links:
Hanser-Verlag: Wilhelm Genazino, Tarzan am Main
Wikipedia: Wilhelm Genazino

 

Helmuth Schönauer, 26-03-2013

Bibliographie

AutorIn

Wilhelm Genazino

Buchtitel

Tarzan am Main. Spaziergänge in der Mitte Deutschlands

Erscheinungsort

München

Erscheinungsjahr

2013

Verlag

Hanser-Verlag

Seitenzahl

138

Preis in EUR

17,40

ISBN

978-3-446-24122-0

Kurzbiographie AutorIn

Wilhelm Genazino, geb. 1943 in Mannheim, lebt in Frankfurt/M.