Artur Becker, Der Lippenstift meiner Mutter

Pubertät in einer polnischen Provinzstadt - diese drei harten „P“ garantieren eine groteske Literatur.

In einem entlegenen Städtchen Polens hart an der russischen Grenze steckt das sogenannte Schusterkind Bartek seine Reviere ab. Headquarter dieser Erkundungen ist eine Schusterwerkstatt, in der die wichtigsten Personen ein und ausgehen, zumal es zu Hause oft düster und wild hergeht.

So hat etwa die Partei die sprichwörtliche Finsternis in die Plattenbauten gebracht, worin die Menschen knapp an der Grenze zur Gewalt und Hoffnungslosigkeit ihren Lebenssinn suchen.

Der Ton ist oft streng wie der Geruch rundum, so führt der Vater Barteks an seiner Frau in der Küche regelmäßig Verhöre durch, während die Großmutter vielsagend zusammenfasst: Nicht nur die Kirche, sondern auch der Staat hat das Monopol auf Ethik und Moral. (23)

Überhaupt haben die Alten das Sagen, schon allein in ihren Kosenamen steckt jeweils ein Stück Lebenserfahrung. So heißt der eine Opa Monte Cassino, weil er im Krieg an diesem Ort zwei Beine verloren hat, deren Prothesen man ihm beim Begräbnis extra nachwirft. Der andere ist Opa Franzose, weil er offiziell meist nach Frankreich verschwindet, in Wirklichkeit aber bei der polnischen Bahn als Saisonschaffner arbeitet.

Bartek muss sich in dieser Welt voller Geschichten und ausgebüchster Lebenserfahrungen erst seinen Reim machen und er tut dies vor allem durch erotische Phantasien. So nimmt er sich täglich Meryl Streep zur Brust, indem er sich vorstellt, sie schläft mit ihm in der Brusttasche. Eines Tages wird er eine Frau aus Fleisch kennen lernen und lieben.

Die sexuellen Koordinaten sind auch ein wenig verrutscht, da spricht der Pubertierende vom Lippenstift, wenn er das weibliche Genital meint, und der Geschlechtsverkehr verläuft logischerweise seitenverkehrt, indem die Frauen mit ihren Lippenstiften in die Männer eindringen. So ist auch die Angst um Mutter eine Sorge um ihren Lippenstift, denn ganz hat Bartek die Welt noch nicht ausgelotet.

Das Städtchen entwickelt sich zu einem Gebilde, aus dem man eines Tages wird abhauen müssen. Da hilft es auch nichts, wenn man die Weltfilme aus dem örtlichen Kino auf die Geographie der Stadt umlegt und die Hauptgassen Broadways nennt, da hilft auch das Lesen nichts, denn Bücher dörren in dieser Gegend das Hirn schneller aus als Wodka. Am Schluss stehen schon früh am Morgen die Waggons bereit, die einen bei Tagesanbruch weg oder über eine Grenze bringen können. Diesmal vielleicht freiwillig.

Artur Beckers groteskes Provinz-Panoptikum zeigt voller Selbstbewusstsein, wie man auch in einer ziemlich überschaubaren Gegend mit dem Weltgeist kommunizieren und ein aufregendes Leben führen kann.

Artur Becker, Der Lippenstift meiner Mutter. Roman. [Orig.: Frankfurt/M, 2010].
München: btb 2012. (= btb 74296). 313 Seiten. EUR 10,30. ISBN 978-3-442-74296-7.


Weiterführende Links:
Btb: Artur Becker, Der Lippenstift meiner Mutter
Wikipedia: Arthur Becker

 

Helmuth Schönauer 18/07/12

Bibliographie

AutorIn

Artur Becker

Buchtitel

Der Lippenstift meiner Mutter

Erscheinungsort

München

Erscheinungsjahr

2012

Verlag

btb

Seitenzahl

313

Preis in EUR

10,30

ISBN

978-3-442-74296-7

Kurzbiographie AutorIn

Artur Becker, geb. 1968 in Masuren, lebt in Verden an der Aller.