Christine Hochgerner, Warum Anna in fremden Taschen stöbert

Je ordentlicher ein Leben verläuft, umso leichter entgleist es. Was bei einer chaotischen Lebensführung als Geniestreich durchgeht, führt bei einem Ordnungsfreak zu einer Lebenskrise.

Christine Hochgerner schickt in ihrem Roman von der Taschen stöbernden Anna die Heldin in jenen Windkanal, in dem vorerst theoretisch das Pensionsgebläse angeworfen wird. Anna geht auf den sechzigsten Geburtstag zu, sie arbeitet als Assistentin in der Zahnarztpraxis ihres Mannes und die Pensionierung wird wohl ihr Leben umkrempeln, vermutet sie.

In diesem Zustand der gedehnten Gegenwart ertappt sie sich dabei, wie sie immer öfter in fremde Handtaschen schaut. Zuerst wirkt alles noch zufällig, sie entnimmt einer Tasche einen Lottoschein und fühlt sich wie ein Kind, das ein Geheimnis hat. Dann freilich wird es immer dramatischer, Anna wird von Handtaschen geradezu magnetisch angezogen und muss darin wühlen, sie bringt den Inhalt durcheinander, was gerade bei erotischen Accessoires durchaus zu Irritationen bei den Durchwühlten führt.

Dieser Tick ist vielleicht das Ergebnis einer größeren Lebensumstellung, die ansteht. Der Mann hat das übliche Verhältnis zu seiner Angestellten, die wird zwar aus therapeutischen Gründen gekündigt, doch dann ist es Anna selbst, die wieder auf das geordnete Seitensprungverhältnis pocht, damit eine Ruhe ist.

Sie selbst freundet sich mit einem ehemaligen Patienten ihres Mannes an und lässt sich in die Geheimnisse geordneten Altwerdens einführen.

Irgendeinen Sinn muss das Ganze doch haben?“ fragt der alte Mann sein eigenes Leben ab und kann die entscheidenden Fragen trotz Altersweisheit nicht beantworten. (57)

Weil es im Trend liegt, besucht Anna auch einen Zuhör-Therapeuten, mit dem sie den obligaten Sex absolviert, denn Therapie bedeutet in diesen Kreisen offensichtlich Sex machen. Dann irritiert der um diese biographische Zeit übliche Tumorverdacht, ein „Explosionsherd“ muss sofort operiert werden. In der Reha taucht der Sexhandwerker wieder auf und macht dieses Mal auf reiner Gesprächsbasis weiter.

Allmählich scheint die aufgewühlte Seele wieder in ruhigeres Fahrwasser zu kommen, nachdem die Handtaschenwühlerei beinahe zu einer Polizeiaktion geführt hätte. „Wir essen alle unsere Schaumsüppchen in Nobellokalen, statt an der Konfliktlösung zu arbeiten“, fasst jemand diese Lebensgewohnheit gut Betuchter zusammen, die alles mit schöner Fassade und gutem semantischen Design lösen wollen.

Anna nimmt eine Auszeit in einem City-Hotel, vielleicht sollte sie sich scheiden lassen. Dann kommt sie an einer Baulücke vorbei, die mitten im Innenstadttrubel eine seltsame Ruhe ausstrahlt: Anna wird vorläufig eine Baulücke sein, das genügt.
Christine Hochgerner erzählt wohlwollend sanft mit einem leichten Schwenk an Ironie von jener sogenannten Pensions-Pubertät, in der die Heldinnen und Helden außer Tritt geraten und zu spinnen anfangen, ehe sie von der Altersmilde ruhig gestellt werden. – Vielleicht tut alt werden wirklich nicht weh.

Christine Hochgerner, Warum Anna in fremden Taschen stöbert. Roman.
Klagenfurt: Sisyphus 2015, 149 Seiten, 14,80 €, ISBN 978-3-901960-96-3

 

Weiterführender Link:
Sisyphus Verlag: Christine Hochgerner, Warum Anna in fremden Taschen stöbert

 

Helmuth Schönauer, 14-12-2015

Bibliographie

AutorIn

Christine Hochgerner

Buchtitel

Warum Anna in fremden Taschen stöbert

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2015

Verlag

Sisyphus Verlag

Seitenzahl

149

Preis in EUR

14,80

ISBN

978-3-901960-96-3